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Olaf Scholz und der Ukraine-Krieg: Flucht nach vorn

Krieg in der Ukraine

Kanzler im Krieg: Wie Olaf Scholz die Flucht nach vorn antritt

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    Jetzt also klare Kante: Bundeskanzler Olaf Scholz während seiner Regierungserklärung am Sonntag im Bundestag.
    Jetzt also klare Kante: Bundeskanzler Olaf Scholz während seiner Regierungserklärung am Sonntag im Bundestag. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Wie persönliche Niederlagen im Kleinen aussehen, hat Olaf Scholz vor fünf Jahren erlebt. Damals versprach er der Welt einen sicheren G20-Gipfel in Hamburg, der Stadt, der er als Bürgermeister vorstand. Trotz des Einsatzes von mehr als 20.000 Polizisten legten Chaotinnen und Chaoten Teile der Stadt in Schutt und Asche. Scholz war blamiert und ging anschließend provinziell großspurig in die Offensive, um sein Vorgehen zu verteidigen.

    Im Jahr 2022 ist der SPD-Politiker Kanzler der Bundesrepublik, und gerade setzt der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine in Brand. Vor kurzem noch hat Scholz mit Putin gesprochen und angestoßen auf bessere Zeiten, er verließ den Kreml mit dem Gefühl, dass alles nicht so schlimm werden würde. Jetzt ist er eines anderen belehrt worden. Putin hat die westliche Welt verraten, er hat ihn verraten, und Scholz muss sich wieder verteidigen. Das Provinzielle hat er abgelegt, aber das Dilemma bleibt. Denn eigentlich ist Scholz auf so etwas wie den überhaupt nicht vorbereitet.

    Olaf Scholz ist einer, der er es gerne klar mag und die gerade Linie verfolgt. Während seine Vorgängerin Angela Merkel (CDU) auch das Graufeld und die Zwischentöne bespielte, denkt der 63-Jährige lieber schwarz-weiß. Zu viele Drogendealer in Hamburg? Scholz schickt mehr Polizistinnen und Polizisten, ignoriert Hinweise, dass Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen vielleicht eine gute Zwischenlösung wären.

    Olaf Scholz muss sich verteidigen, und zwar ganz offensiv

    Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York gehört der damalige Innensenator zu den ersten, die eine Rasterfahndung anordnen und einen schärferen Umgang mit radikal-islamischen Vereinigungen fordern. „Ich bin liberal, aber nicht doof“, sagt er damals.

    Es sind Sprüche wie diese, bei der seine Fans ins Schwärmen geraten und Scholz für seine Gradlinigkeit loben. Seine Gegner hingegen schütteln den Kopf und sind genervt vom kleinen Elbe-Napoleon, wie einige ihn nennen.

    Nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges lässt sich Scholz selbst wieder keine Wahl. Der ungewohnte Druck im Innern und aus dem Ausland zwingt ihn zu einer Handlungsweise, die Kompromisse ausschließt und ihm nur eine Schlussfolgerung gewährt: Er muss sich verteidigen, und zwar ganz offensiv.

    Da redeten sie noch miteinander: Russlands Präsident Wladimir Putin (links) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor zwei Wochen in Moskau.
    Da redeten sie noch miteinander: Russlands Präsident Wladimir Putin (links) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor zwei Wochen in Moskau. Foto: Pressebüro Russischer Präsident, Deutsche Botschaft Moskau

    Rund 29 Minuten dauert die Rede, mit der er das tut. Eine Ansprache am Sonntag im Bundestag, die der Diplomatie keinen Raum mehr lässt, die Grautöne vermeidet und eine der weitreichendsten Kursänderungen in der Geschichte der Bundesrepublik beschreibt.

    Nun will der Kanzler 100 Milliarden für die Bundeswehr lockermachen

    Mit entschlossenem Blick verkündet er, was Stunden zuvor noch für viele undenkbar schien, vor allem in der SPD: die „Zeitenwende“ in der Innen- und Sicherheitspolitik. Gerade noch hat er das Ziel der Nato, jeder Mitgliedsstaat solle zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben, infrage gestellt. Nun will er 100 Milliarden Euro lockermachen und das Zwei-Prozent-Ziel sogar noch übertreffen.

    Von einem „Kohl-Moment“ für Scholz sprechen Beobachter, weil ein geschichtliches Ereignis eine völlig neue Situation schafft, mit der ein Kanzler nun klarkommen muss. Doch bei Helmut Kohl (CDU) ist es mit der plötzlichen Möglichkeit der deutschen Wiedervereinigung ein historischer Glücksfall, ein Fenster unvorstellbarer historischer Chancen, das sich unerwartet öffnet. Für Scholz dagegen ist es eine Begegnung mit unvorstellbarer Gefahr, mit kaum absehbaren historischen Risiken. So erlebt Scholz wohl eher seinen „Schmidt-Moment“.

    Es gibt in der Tat einige Gemeinsamkeiten zwischen Scholz und dem zweiten SPD-Kanzler nach Willy Brandt, der von 1974 bis 1982 regierte. Helmut Schmidt verkörpert damals wie Scholz heute den Typus des hanseatisch-kühlen Hamburgers. Wie später Scholz ist er zuerst in der Hafenstadt erfolgreich, später Bundesfinanzminister und dann Kanzler. Beide werden früh in ihrer Amtszeit mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert, bei denen es um Leben und Tod geht.

    Die Bundesregierung will 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr lockermachen.
    Die Bundesregierung will 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr lockermachen. Foto: Sina Schuldt, dpa (Archivbild)

    Was für Scholz der blutige Überfall Putins auf die Ukraine ist, ist für Schmidt der Terrorkrieg, den linksextremistische Gruppen wie die Rote Armee Fraktion (RAF) der Bundesrepublik erklären. Ende Februar 1975, kurz vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, entführen Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ den Spitzenkandidaten der CDU, Peter Lorenz. Weil nicht lange zuvor der Präsident des Berliner Kammergerichts, Günter von Drenkmann, bei einem fehlgeschlagenen Entführungsversuch erschossen worden war, gibt es an der Entschlossenheit der Terroristen keinen Zweifel.

    Scholz steht unter dem Schock der russischen Gewalt

    Im Krisenstab der von Schmidt geführten Bundesregierung, dem auch führende Oppositionspolitiker wie Helmut Kohl (CDU) angehören, setzt sich die Auffassung durch, die Unversehrtheit des Entführten müsse über allen anderen Erwägungen stehen. So beugt sich die Regierung dem Druck der Erpresser. Mehrere inhaftierte Terroristen werden freigelassen und in den Südjemen ausgeflogen. Einige von ihnen begehen später weitere Terrorakte. Schmidt, damals wie Scholz heute noch neu im Amt, erkennt, dass es ein Fehler ist, sich dem Druck der Staatsfeinde zu beugen. Von da an verfolgt er eine Politik der unnachgiebigen Härte gegenüber dem Terror.

    Unter dem Schock der russischen Gewalt scheint Scholz nun einen ähnlich schmerzhaften Erkenntnisprozess wie Schmidt zu vollziehen. Anders als sein Vorbild hat es der Jurist aber nicht mit versprengten Wirrköpfen, sondern mit einer Großmacht zu tun. Auf einen wie Putin sind Scholz und sein Kabinett nicht vorbereitet.

    Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, sein Sprecher Steffen Hebestreit oder sein Wirtschaftsberater Jörg Kukies sind erfahrene Politiker, mit einer solchen Herausforderung waren sie indes noch nicht konfrontiert. Ausreichende Expertise bringt nur sein außen- und sicherheitspolitischer Berater Jens Plötner mit, der durch viele Jahre Arbeit im Auswärtigen Dienst den Umgang mit Despoten kennt.

    Scholz bekommt es zudem mit einem bislang ungewohnten Druck aus dem Ausland zu tun. Während Länder wie die USA und Frankreich schnell klare Kante gegen Russland zeigen, fällt das dem Kanzler schwer. Russlands Banken sollen zunächst nicht vom Netz des internationalen Zahlungssystems Swift genommen, der Ukraine keine deutschen Waffen geliefert werden.

    Seine anfängliche Zurückhaltung stößt nicht auf Sympathie

    Es gibt gute Gründe dafür. Russland ist der Brennstofflieferant Nummer eins, Deutschland hat wegen des Überfalls auf die Sowjetunion eine tiefe historische Schuld. Die SPD pflegt seit den Zeiten Willy Brandts eine enge Verbindung zu Russlands Mächtigen. Und Scholz denkt daran, dass es nach diesem Krieg wieder eine Beziehung zu Russland geben wird.

    Das alles sind gewichtige Argumente. International jedoch stößt die Zurückhaltung nicht auf Sympathie. Das böse Wort vom Appeasement, von der Beschwichtigung also, macht die Runde. Als Appeaser ist beispielsweise der britische Premierminister Neville Chamberlain unheilvoll in die Geschichte eingegangen, weil er Adolf Hitler durch Entgegenkommen vom Krieg abhalten wollte.

    Er hat die Welt verraten, er hat Olaf Scholz verraten: Wladimir Putin.
    Er hat die Welt verraten, er hat Olaf Scholz verraten: Wladimir Putin. Foto: Sergei Guneyev, Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

    Als sich immer mehr Länder für Waffenlieferungen und Einschränkungen des Bankenverkehrs entscheiden, selbst der ungarische Ministerpräsident und Russland-Freund Viktor Orban dem zustimmt, wird es international einsam um den Kanzler. Olaf Scholz als neuer Appeaser, als neuer Chamberlain, schwächer als Orban? Das kann er, dessen Umfragewerte wackelig sind, nicht zulassen.

    Aber auch seine Partei, in der es viele Befürworter eines russlandfreundlichen Kurses gibt, macht Druck. Gerhard Schröder, Scholz’ sozialdemokratischer Vor-Vorgänger im Kanzleramt, Putins Freund und Gas-Lobbyist, ist der prominenteste davon. Als Schröder Kanzler ist, dient Scholz ihm als Generalsekretär, in der Russland-Krise rückt Scholz nun maximal von seinem einstigen Förderer und Weggefährten ab.

    Als der Kanzler spricht, weinen einige Abgeordnete

    Er muss dabei vor allem die Grünen mitnehmen, die unter anderem aus dem Protest gegen die in Deutschland stationierten US-Raketen entstanden sind. Die ehemaligen Ökos haben ideologisch einen viel weiteren Weg zu gehen als der dritte Koalitionspartner, die FDP. Einen Großteil der letzten Stunden hat Scholz darauf verwendet, die Grünen auf seinen Kurs einzustimmen. Es kommt ihm entgegen, dass zum Beispiel der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck schon früh Waffenlieferungen in die Ukraine befürwortet. Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock und die anderen Kabinettsmitglieder sind ebenfalls unerfahren und lassen Scholz am Ende gewähren; lassen ihn denjenigen sein, der den Kurs vorgibt.

    Ob diese Klarheit anhält oder sich die Politik des Kanzlers bald wieder eintrübt – man weiß es nicht. Als Olaf Scholz am Sonntag im Plenarsaal seine Regierungserklärung abgibt, müssen einige Abgeordnete weinen, die Angst vor einem Krieg ist groß, mit einer stärkeren Bewaffnung sind viele nicht einverstanden. Kurz nach seiner Rede versammeln sich bereits Tausende nur wenige Meter vom Reichstagsgebäude entfernt, um für Frieden zu demonstrieren. Später sind es Hunderttausende. Es mehren sich die Rufe, die gegen eine Aufrüstung der deutschen Armee sind.

    Wladimir Wladimirowitsch Putin kommt am 7. Oktober 1952 als Sohn einer armen Arbeiterfamilie in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, zur Welt.
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    Russlands Präsident Wladimir Putin hat mit dem Angriff auf die Ukraine die Sicherheitslage in Europa komplett verändert. Ein Überblick über wichtige Wegmarken seinem Leben.

    „Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland, und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen, heute und in der Zukunft?“, fragt Scholz in seiner Regierungserklärung. Zumindest für das Heute hat er die Frage aus seiner Sicht beantwortet.

    Was die Zukunft bringt, weiß in diesen Tagen niemand.

    Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.

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