Er habe in der ÖVP „noch nie solch eine Leere erlebt wie derzeit“ – das sagt nicht etwa ein Politiker der Opposition im österreichischen Parlament, sondern einer, dessen Stimme in der Kanzlerpartei Gewicht hat: Heinrich Neisser, langjähriger Fraktionschef der ÖVP. Die Bilanz des 87-jährigen konservativen Urgesteins nach eineinhalb Jahren Kanzlerschaft von Karl Nehammer fällt gelinde gesagt ernüchtert aus: Neisser vermisst „jegliche Anzeichen hin zu einer Revitalisierung“. Er ist mit seiner Verbitterung nicht alleine.
Die Partei von Kanzler Karl Nehammer steckt nach wie vor in einer tiefen Sinnkrise: Bei den zurückliegenden Landtagswahlen in Niederösterreich und Salzburg setzte es herbe Niederlagen, im Bund schafft Nehammers Partei es nicht, Lösungen für die fatale Inflationsspirale und die massive Teuerung zu finden – und scheint sich darum auch gar nicht zu bemühen. Die den Konservativen eigentlich wohlgesonnene, mächtige Kronen Zeitung wirft Nehammers Koalition mit den Grünen „Versagen“ vor, doch den Kanzler scheint das kaum zu kümmern. Er und seine Strategen setzen lieber weiter auf das Thema „Migration“, ganz so wie aus dem Drehbuch jenes Mannes, den sich nicht wenige in der Partei wieder herbeiwünschen: den gefallenen „Messias“ und Ex-Kanzler Sebastian Kurz.
Es-Kanzler Sebastian Kurz tourt durch die Medien
Während sich die Nehammer mit der desaströsen Stimmung unter den Wählern herumschlägt, tourt Kurz durch die Medien, wo er in bemerkenswerter Regelmäßigkeit verkündet, er sei nicht an einem Comeback interessiert. Jüngst veröffentlichte der gesunkene ÖVP-Stern in der Welt einen Gastbeitrag. Titel: „Nur wer offene Grenzen will, gehört zu den ‚Guten‘? So kann es nicht weitergehen“. Von einer „Richtungsentscheidung“ schreibt Kurz in seinem Beitrag – und er lässt keinen Zweifel, wo es hingehen soll: weiter nach rechts.
Dass Kurz lieber heute als morgen wieder in die politische Arena zurück möchte, sagen auch Weggefährten aus seiner „türkisen Clique“. Diese hat sich längst wieder um ihren Anführer versammelt. Am Wiener Schubertring, beste Adresse in der City, teilt sich Kurz mit seinen Leuten, darunter auch seine enge Vertraute, Ex-Ministerin Elisabeth Köstinger, eine Büro-WG. Wie auch Kurz ist Köstinger ins Berater-Geschäft eingestiegen. Der Ex-Kanzler selbst arbeitet seit seinem Abschied für den US-Superreichen und Trump-Spender Peter Thiel – und gründete zudem das Start-up „Dream Security“, das Cybersecurity-Produkte entwickeln will. Doch das neue Geschäftsumfeld des Ex-Kanzlers verschafft ihm – zusätzlich zu den zahlreichen Korruptionsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen ihn und sein ehemaliges Umfeld – erneut negative Schlagzeilen.
Am vergangenen Montag verabschiedete das EU-Parlament einen Abschlussbericht des sogenannten „Pegasus“-Untersuchungsausschusses. Dieser behandelte die zahlreichen Bespitzelungsaffären mittels der israelischen Spionage-Software „Pegasus“: So waren etwa ungarische Journalisten oder auch polnische Staatsanwälte überwacht worden. Gleich mehrmals kommt Kurz im Endbericht des Ausschusses vor.
Die neuen Geschäfte des Altkanzlers provozieren Kritik
Von einer „indirekten, aber alarmierenden Verbindung“ zwischen Thiel, Kurz und dem Mitgründer der „Pegasus“-Herstellerfirma NSO Group, Shalev Hulio, ist im Bericht die Rede. Die konservative EVP-Fraktion im EU-Parlament beantragte im letzten Moment Streichungen der für sie unangenehmen Passagen – wohl auch auf Betreiben der österreichischen ÖVP-Abgeordneten. Die Bemühungen blieben erfolglos. Via Twitter streute Kurz daraufhin Nebelgranaten, schrieb unkorrekt von „absurden Falschinformationen“, die das EU-Parlament verbreiten würde. Die Aufregung auch aus den eigenen Reihen über den „Pegasus“-Bericht zeigt: Die unangenehmen Schlagzeilen kann Kurz in der momentanen Phase seiner möglichen Comeback-Pläne nicht brauchen.
Schließlich kommt dem immer noch jungen Altkanzler nicht nur die schlechte Lage der ÖVP und die massive Kritik an seinem Nachfolger Nehammer zugute, sondern auch der Kurs der ÖVP, den nach wie vor nicht wenige Kurz-treue Parteimitarbeiter in der Wiener Parteizentrale maßgeblich vorgeben. Anstatt sich vom Rechtspopulismus Kurz'scher Prägung abzuwenden, koalieren nach den Wahlschlappen in den Bundesländern die dortigen ÖVP-Landeshauptleute Niederösterreichs und wohl auch bald Salzburgs mit der extrem rechten FPÖ Herbert Kickls.
Zusammen mit Oberösterreich werden so bald drei einwohnerstarke Bundesländer von einer schwarz-blauen Landesregierung geführt – eine deutliche Richtungsweisung für 2024, wenn im Bund neu gewählt wird. Die FPÖ führt seit Monaten mit wachsendem Abstand in den Umfragen – ihr Chef Kickl will „Volkskanzler“ werden.