Als am frühen Morgen des 28. Februar 2018 ein Polizeioffizier und seine Begleitung bei der Sicherheitszentrale des österreichischen Bundesamts für Verfassungsschutz klingeln, ahnt der dort diensthabende Beamte nichts Böses. Er habe einen Termin für eine Besprechung, sagt der Polizei-Oberst, für den Aufseher am Portal ist das nichts Ungewöhnliches. Als er die erste Sicherheitsschleuse öffnet und der Polizist mit seiner Begleitung eintritt, ändert der Besuch plötzlich den Tonfall von freundlich auf rabiat: Dies sei eine Hausdurchsuchung, jegliche Kommunikation sei zu unterlassen. "Hätte ich zum Telefon gegriffen, wären sie handgreiflich geworden", so berichtet es später einer der Sicherheitsbeamten aus dem Amt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT).
Was dann folgt, kennen die Staatsschützer in der BVT-Zentrale im 3. Wiener Gemeindebezirk wohl nur aus Hollywood-Filmen: Ein Trupp einer Polizeieinheit, die ansonsten Drogendealer und Straßenkriminelle jagt, stürmt ins Gebäude, die Polizisten tragen schusssichere Westen und haben eine Türramme dabei. Gezielt steuern sie die Staatsschutz-Referate und die IT-Abteilung an. Sie nehmen ihren fassungslosen Kollegen und Kolleginnen sämtliche Mobiltelefone und Datenträger ab, durchsuchen die Büros. Was genau sie finden wollen, scheint aber unklar. In den kommenden Stunden kopieren Polizeikräfte Datenmengen in Terabyte-Größe. Das beschlagnahmte Material verpacken sie teils in Plastiksäcke, verladen es in einen Kleinbus – und bringen alles zur Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, die die Durchsuchung angeordnet hatte. In der BVT-Zentrale bleiben die Staatsschutz-Beamten im Chaos zurück.
Die Basis der Aktion bildet ein anonym verfasstes Konvolut aus wild zusammengewürfelten Vorwürfen gegen die Führung des BVT. Die Rede ist von Sexpartys und davon, dass Beamte des BVT illegal nordkoreanische Reisepässe an Südkorea weitergegeben haben.
Der Grund für die Razzia beim Verfassungsschutz? Bis heute nicht bekannt
Die überfallartige Durchsuchung – ein Gericht erklärt diese später für rechtswidrig – steht am Anfang des in Österreich „BVT-Affäre“ genannten Skandals, der die Alpenrepublik über Monate hinweg beschäftigen wird. Österreich verliert in der Folge das Vertrauen der ausländischen Partnerdienste, wird von wichtigen Informationen abgeschnitten. Das BVT wird aufgelöst und als Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienste (DSN) neu gegründet. Den tatsächlichen Grund für die Razzia im BVT aber konnte bis heute auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss nicht klären.
Gut sechs Jahre später lässt die wohl größte Spitzelei-Affäre, die Österreich seit Jahrzehnten gesehen hat, die Vorgänge des Februar 2018 in neuem Licht erscheinen. Ein weitverzweigter Fall von Spionage für den russischen Geheimdienst sorgt seit Tagen international für Schlagzeilen – und für Kopfschütteln. Im Zentrum des hochkomplexen Skandals, der auch mit der Zerschlagung des BVT zusammenhängen dürfte, steht ein Mann, der jahrzehntelang ebendort Dienst tat: der ehemalige Verfassungsschützer Egisto Ott. Seit dessen Festnahme Ende März kommen fast täglich neue Details über eine für Russland spionierende Zelle ans Tageslicht. Jetzt sitzt Ott in Untersuchungshaft – für ihn gilt die Unschuldsvermutung. Ermittelt wird wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit zum Nachteil Österreichs und Verletzung des Amtsgeheimnisses.
Jahrelang und systematisch, so der Vorwurf, sollen Ott und sein Vorgesetzter im BVT, Martin Weiss, geheime Informationen direkt aus dem Verfassungsschutz abgezweigt haben, um sie an den inzwischen meistgesuchten Mann Westeuropas weiterzuleiten: Jan Marsalek, Ex-Wirecard-Manager, mutmaßlicher Millionenbetrüger und Spion für Putins Regime in Moskau. Der Schaden, den das Spionage-Netzwerk anrichtete, soll enorm sein: Es geht um Spezial-Laptops aus deutscher Produktion, um die Hintermänner des Giftanschlags auf den jüngst verstorbenen russischen Oppositionellen Alexej Nawalny und Hunderte streng geheime Datensätze, die bei Putins Geheimdienst FSB gelandet sein sollen.
Es waren britische Beamte, die bereits im vergangenen Frühjahr der österreichischen Spionage-Zelle auf die Spur gekommen sind. Bei einer Durchsuchung der Wohnungen von fünf Bulgaren, die für die Russen spioniert hatten, fanden die Briten umfangreiche Handychats – und diese zeigen, dass Marsalek den Spionage-Ring anführte. Die Spur führte rasch direkt in den österreichischen Verfassungsschutz. Doch erst Ende März 2024 haben die österreichischen Ermittler offenbar genug Beweise gegen Egisto Ott gesammelt, um ihn zu verhaften. Was Hausdurchsuchungen von Otts Wohnung in Wien und seinem Wohnsitz in Kärnten ans Tageslicht befördern, zeichnet ein immer dichteres Bild einer jahrelangen Auftragsarbeit des Österreichers für den Kreml.
Alles begann mit einem Kanu-Ausflug
Als im Jahr 2017 hochrangige ÖVP-Regierungspolitiker einen gemeinsamen Kanuausflug unternahmen, fielen drei Mobiltelefone ins Wasser und wurden einem IT-Spezialisten im damals noch existierenden BVT zur Reparatur übergeben. Der IT-Mann reparierte die Handys nicht nur, sondern fertigte Kopien der Inhalte an – und soll sie danach an Ott weitergegeben haben. Dieser soll, so der Vorwurf, das Material Jahre später an die Russen übergeben haben. Ott selbst bestritt das in seiner Vernehmung. Er habe die Kopien selbst vernichtet.
Ebenfalls 2017 erhielt die BVT-Führung erste Hinweise, dass Ott für Russland spionieren soll. Für eine strafrechtliche Verfolgung scheint das allerdings nicht gereicht zu haben, obwohl Ott später sogar kurz in Untersuchungshaft saß: Der mutmaßliche Spion wurde suspendiert, die Suspendierung danach aber wegen mangelnder Begründung aufgehoben. Ott wurde vom BVT weg in die Sicherheitsakademie versetzt, behielt aber Dienstmarke und E-Mail-Adresse – ebenso wie seine zahlreichen Kontakte vor allem im Ausland, wo er jahrelang als Verbindungsbeamter tätig war.
Mutmaßlicher Russland-Spion Ott hatte Kontakte zur extrem rechten FPÖ
Immer wieder soll sich Ott in den vergangenen Jahren dieses Netzwerks bedient haben – ebenso wie seiner befreundeten Beamten im BVT. Diese sollen illegale Abfragen für Ott getätigt haben. In Chats, die die Polizei bei Egisto Ott sichergestellt hat, finden sich Dutzende Adressen und Kontaktdaten von internationalen Geheimdienstlern. Ott soll das Material zu Geld gemacht haben, jahrelang und immer wieder, eingebunden soll dabei sein langjähriger Chef im BVT, Martin Weiss, gewesen sein. Weiss setzte sich 2023 nach Dubai ab.
Ott, der auch mit ranghohen Politikern der extrem rechten FPÖ in Kontakt stand, dürfte für den Kreml aber noch viel wichtigere Jobs erledigt haben. 20 Jahre lang lebte der bulgarische Journalist Christo Grozev in Wien, der Mann, der unter anderem die Hintermänner des Giftanschlags auf Nawalny oder Details zum sogenannten „Tiergarten-Mord“ in Berlin aufgedeckt hatte. Der österreichische Top-Netzwerker soll die geheime Wohnadresse von Grozev an den russischen Geheimdienst weitergegeben haben. In der Folge brachen im vergangenen Jahr russische Agenten bei Grozev ein, stahlen dessen Laptop und USB-Sticks und brachten diese nach Moskau. Grozev musste in die USA flüchten.
Und auch bei Ott selbst fanden sich im Zuge seiner Festnahme im März Laptops. Keine gewöhnlichen, sondern zwei sogenannte SINA-Rechner. Die speziellen Geräte – SINA steht für „Sichere Inter-Netzwerk Architektur“ – wurden von deutschen Behörden entwickelt, um geheime Informationen sicher übermitteln zu können. Laut den Ermittlungsakten weiß Ott von fünf solcher Geräte. Eines davon befinde sich bei einem österreichischen Journalisten, ein weiteres im Ausland, wenn auch nicht in Russland, soll Ott zu Protokoll gegeben haben. „Der Iran wird glücklich über den Kauf sein“ – dieser Satz, geschrieben von Jan Marsalek, findet sich in einem der Chats, die bei den bulgarischen Spionen gefunden wurden.
„Solche Laptops sollen in mehr als 30 Ländern im Einsatz sein, darunter viele Nato-Staaten. Das macht diesen Aspekt der Spionageaffäre so brisant“, sagt Thomas Riegler. Er ist Experte für Geheimdienste im In- und Ausland, forscht am Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies an der Universität Graz. Wie groß könnte der Schaden für westliche Geheimdienste durch den Verlust der SINA-Geräte sein? „Über die Auswirkungen dieser mutmaßlichen Übermittlung eines Geräts nach Moskau kann man derzeit nur spekulieren“, sagt Riegler.
Schrieb Egisto Ott das ausschlaggebende Konvolut?
Für den jetzt DSN getauften, neuen österreichischen Staatsschutz sei die Affäre so etwas wie ein reinigendes Gewitter: „Ich kann mir vorstellen, dass man fast erleichtert ist, dass diese Geschichte jetzt endlich aufgeklärt wird und nicht länger wie ein Damoklesschwert über der Behörde hängt." Dass es noch immer undichte Stellen im Staatsschutz gebe, sei allerdings in dieser Causa nicht auszuschließen. „Umso wichtiger ist es, den Vorwürfen auf den Grund zu gehen, damit allfälliges Misstrauen ausgeräumt wird.“
Dazu gehört laut Riegler auch, die Zusammenhänge mit der Razzia im BVT 2018 aufzuklären. Schließlich legt ein linguistisches Gutachten nahe, dass es Ott gewesen ist, der das ominöse Konvolut aus Vorwürfen verfasste, das schließlich zur Razzia führte. Ott bestreitet dies. Die Involviertheit hochrangiger, FPÖ-naher Beamter – damals bekleidete der jetzige FPÖ-Chef Herbert Kickl das Amt des Innenministers – steht außer Frage. Dazu hat Riegler eine Vermutung: „Es steht nun im Raum, dass die Razzia bewusst herbeigeführt wurde, um den Verfassungsschutz zu schwächen. Wenn die Vorwürfe zutreffen, dann hat sich FPÖ-Innenminister Herbert Kickl damals instrumentalisieren lassen. Marsalek und sein Netzwerk haben offenbar gezielt das Misstrauen der FPÖ in das Amt geschürt.“
Ist davon auszugehen, dass Weiss und Ott die eigentlichen „Drahtzieher“ der Razzia waren? „Dafür gibt es jetzt einige Indizien“, sagt Riegler, man müsse die weiteren Ermittlungen abwarten. Aber: „Vom Standpunkt Marsaleks und seiner mutmaßlichen Helfer könnte das Ziel gewesen sein, die innere Sicherheit Österreichs zu untergraben und damit die Stabilität des Landes. Hier wurde offenbar sehr strategisch und langfristig vorgegangen.“
Längst tobt rund um die Affäre in Österreich eine politische Schlammschlacht: Auf der einen Seite die ÖVP, die seit vielen Jahren die Innenminister stellt und damit die Verantwortung auch für den Staatsschutz trägt. Auf der anderen Seite die FPÖ, mit ihrer Rolle in der Verfassungsschutz-Razzia, ihrer jahrelang gepflegten Nähe zu Putins Partei und ihren Kontakten nach Russland.
Am Donnerstagnachmittag trat Herbert Kickl vor einen Ausschuss des Parlaments in Wien, schon im Vorfeld hatten sich die ehemaligen Koalitionspartner ÖVP und FPÖ einen heftigen Schlagabtausch geliefert. 2018, im Jahr der Razzia, war der heutige Bundeskanzler Karl Nehammer noch ÖVP-Generalsekretär gewesen und hatte betont: „Das Vorgehen von Innenminister Herbert Kickl war selbstverständlich mit der neuen Volkspartei abgestimmt und akkordiert.“ Doch darüber will man in der ÖVP heute lieber nicht mehr reden.