Österreich kommt nicht zur Ruhe: So erwartbar der am Donnerstag erfolgte Komplett-Rückzug des gescheiterten Ex-Kanzlers Sebastian Kurz für viele Beobachter war, so groß ist die Unsicherheit, wie es politisch weitergeht. Mit seiner Rede, in der Kurz seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern bekannt gab, wurde klar: Die Regierung von ÖVP und Grünen steht wieder vor einem fundamentalen Umbau.
War zunächst „nur“ von einer Rochade in der ÖVP-Ministerriege die Rede, so war einige Stunden später klar: Es geht erneut auch um den Chefsessel im Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz. Nur sieben Wochen nach seiner Vereidigung stellt Kanzler Alexander Schallenberg sein Amt zur Verfügung. Damit könnte Karl Nehammer – bisher Innenminister und wie Kurz als Hardliner etwa in Migrationsfragen bekannt – nicht nur den ÖVP-Parteivorsitz von Kurz, sondern auch das Kanzleramt von Schallenberg übernehmen.
„Ich bin der festen Ansicht, dass beide Ämter – Regierungschef und Bundesparteiobmann der stimmenstärksten Partei Österreichs – rasch wieder in einer Hand vereint sein sollten“, sagte Schallenberg zur Begründung. Es sei nie sein Ziel gewesen, die ÖVP anzuführen. Er sei bereit, als Regierungschef abzutreten, sobald geklärt sei, wer künftig an die Spitze der „Kanzlerpartei“ tritt.
Ihm folgte am Abend noch ein weiterer Vertrauter Kurz': Live im TV-Sender von Wolfgang Fellner - der ebenfalls in der Korruptionsaffäre beschuldigt wird - trat am Donnerstagabend schließlich auch ÖVP-Finanzminister Gernot Blümel zurück. Er wolle sich nun seiner Familie widmen, sagte er.
Auch in der Partei war Sebastian Kurz zuletzt umstritten
Den Auftakt dieses turbulenten Donnerstags in Wien hatte Kurz gesetzt. Den einen entscheidenden Auslöser, aus seinem kürzlich erfolgten Rücktritt als Kanzler gleich das Ende der ganzen politischen Karriere zu machen, gibt es für Kurz nicht. Es war wohl eine Kombination aus mehreren Faktoren: Immer mehr Stimmen aus den ÖVP-geführten Bundesländern, von Landeshauptleuten, aber auch aus den Bünden und Teilorganisationen der Partei, dürfte der „Schritt zur Seite“, wie das Kurz-Umfeld im Bund seinen Rückzug genannt hatte, nicht gereicht haben. Zu schlecht war wohl die Perspektive auf ein Comeback angesichts der Korruptionsermittlungen wegen Untreue und Bestechlichkeit, die noch viele Jahre dauern werden.
Kurz selbst dürfte eingesehen haben, dass seine Karten keine guten sind – die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft wirft ihm und seinem engsten Umfeld Bestechung, Bestechlichkeit und Untreue in der sogenannten Inseraten-Affäre vor. Der offene Bruch einiger der mächtigen ÖVP-Länderchefs mit ihm und seinem türkisen Parteiprojekt dürfte ein Übriges dazu getan haben – zuletzt hielt Kurz nur mehr Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner die Stange.
Der gefallene Ex-Kanzler und einstige Shooting-Star vieler europäischer Konservativer nannte für sein Karriereende – mit gewohnt geschliffener Rhetorik und schauspielerischem Gestus – zwei Gründe: Einerseits sei die „hundertprozentige Begeisterung“, mit der er in den letzten zehn Jahren Politik gemacht habe, „etwas weniger geworden“, und zwar aufgrund der Tatsache, dass er „nur mehr mit der Abwehr von Vorwürfen, von Unterstellungen, von Verfahren“ zu tun hatte. Das sei kein „Wettbewerb der besten Ideen“ mehr gewesen, wie er ihm vorschwebe, beteuerte er.
Und schließlich habe er durch die Geburt seines kleinen Sohnes Konstantin erkannt, dass es noch andere, wichtigere Dinge gebe im Leben als die Politik: „So ein Baby kann man ja stundenlang ansehen“, sagte der frisch gebackene Vater. Er will sich erst kommendes Jahr neuen Aufgaben widmen – wohl in der Privatwirtschaft.
Die Abschiedsrede von Sebastian Kurz klang stellenweise wie eine Rechtfertigung
In Summe aber klang die Abschiedsrede von Kurz, live übertragen im Fernsehen, eher wie eine Rechtfertigung: Er selbst sieht sich als „Gejagter“, beteuerte abermals seine Unschuld. Er freue sich darauf, diese irgendwann gegenüber der Justiz beweisen zu können. Er sei „weder Heiliger noch Verbrecher“ und natürlich habe auch er Fehler gemacht. Die inhaltliche Bilanz seiner Zeit als Kanzler fiel demgegenüber eher knapp aus. „Höchstleistungen“ hätten er und sein Team in den vergangenen Jahrenerbracht, war Kurz sich sicher .
Die mächtigen ÖVP-Landeshauptleute können hingegen kaum zufrieden sein mit dem Zustand, in dem sich die ÖVP nun nach Kurz’ komplettem Rückzug befindet: In den Umfragen steht die Partei seit einigen Wochen nur mehr bei rund 20 Prozent, die Sozialdemokraten von Pamela Rendi-Wagner liegen voran, und das, obwohl auch in der SPÖ ein Richtungs- und Führungsstreit schwelt.
Die ÖVP ist in einer denkbar ungünstigen Position
Im Jahr 2023 wählen einige Bundesländer, darunter auch das für die ÖVP so wichtige Niederösterreich, einen neuen Landtag – angesichts der Korruptionsermittlungen gegen Ex-Chef Kurz und andere ÖVP-Spitzenpolitiker sind das alles andere als ideale Bedingungen für den Wahlkampf. Und im Bund müssen die Parteigranden nun inmitten der tobenden Corona-Krise für politische Stabilität sorgen – und trotzdem ihre Partei nicht nur inhaltlich, sondern auch personell neu aufstellen. Auch, um für etwaige Neuwahlen gerüstet zu sein. Schließlich bestehen nach wie vor die Strukturen des „Systems“ Kurz fort.
Mit Karl Nehammer als wahrscheinlichem Nachfolger an der Parteispitze wie im Kanzleramt würde sich jedenfalls die niederösterreichische ÖVP ihren Einfluss im Bund sichern. Nehammer genießt das Vertrauen von Landeschefin Mikl-Leitner. Auf Regierungsebene kann auch der grüne Vizekanzler Werner Kogler gut mit Nehammer. Es gebe eine „hervorragende Arbeitsbasis“, sagte Kogler.
Ob der noch amtierende Kurz-Nachfolger im Kanzleramt, Alexander Schallenberg, künftig ein anderes Ministerium übernehmen wird und wenn ja, welches, blieb am Donnerstagabend offen. Wird er wieder Außenminister?