"Taima! Teko! Na kommt mal! Ja, brav!" Wenn Marianne Heberlein ihre Schützlinge ruft, raschelt es sofort im dunklen Gebüsch. In Sekundenschnelle und wie aus dem Nichts stehen plötzlich zwei ausgewachsene, nordamerikanische Grauwölfe vor dem Zaun ihres ein Hektar großen Geheges. Neugierig fixieren die beiden die Biologin und den Besucher. Teko, das Männchen, ist grau-braun gefärbt, das Fell des Weibchens Taima ist fast schwarz. "Die beiden sind unsere aktivsten Tiere. Sie sind eigentlich immer in Action", sagt Heberlein.
Wie verhalten sich Wölfe? Forscher aus aller Welt kommen nach Ernstbrunn
Die gebürtige Schweizerin ist wissenschaftliche Leiterin des Wolf Science Centers (WSC) der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Das Forschungsinstitut ist Teil des Wildparks Ernstbrunn, etwa eine Stunde Fahrtzeit nördlich der österreichischen Hauptstadt gelegen. Der Park und das WSC sind ein beliebtes Ausflugsziel. Hier kann man Wölfe nicht nur aus nächster Nähe beobachten – man kann mit den Tieren sogar eine Runde im Park spazieren gehen. Während Heberlein über das Wolfspärchen erzählt, kommt eine kleine Besuchergruppe mit einem großen, schneeweißen Wolf an der Leine um die Ecke. Und schon ist es um die Aufmerksamkeit von Taima und Teko geschehen.
Elf Wölfe – sie stammen aus den USA, Kanada und Russland – leben hier ganzjährig unter freiem Himmel. Auch bei Schnee und Winterkälte, denn Wölfe halten eine Temperatur von bis zu minus 20 Grad aus. Jedes Tier habe seine eigene, ausgeprägte Persönlichkeit, betont die Forscherin. Dazu kommen, in separaten Gehegen, elf Hunde: Die Erforschung der Domestizierung, der Verhaltensunterschiede von Wolf und Hund, ist einer der Forschungsgegenstände von Heberlein und ihrem 15-köpfigen Team. "Die Wölfe sind alle handaufgezogen, sie vertrauen uns Menschen. Das ist notwendig, damit wir mit ihnen überhaupt Verhaltensforschung betreiben können", erklärt sie. "Was können diese Tiere leisten? Wie verstehen sie ihre Umwelt? Was nehmen sie wahr? Wie lösen sie Probleme? Und auch: Wie kooperieren sie, bei der Aufzucht der Welpen und bei der Jagd?" Das seien die wichtigsten Forschungsfragen, deretwegen Wissenschaftler aus aller Welt nach Ernstbrunn kommen.
2023 schon 40 Wölfe in Österreich erfasst, die Debatte wird hitziger
Besucherinnen und Besucher interessieren sich für noch etwas. Immer wieder sprechen sie die Wolfsexpertin auf die hochemotional geführte Debatte um Wölfe in freier Wildbahn an, auf das Thema "Problemwölfe". Heberlein versteht das, sagt aber: "Wir mischen uns nicht ein in die Diskussion "Wolf ja oder nein", das ist eine politische Frage."
Kein Zweifel: Der Wolf ist zurück – auch in Österreich. Von Januar bis Anfang Juni wurden 40 Tiere auf österreichischem Bundesgebiet erfasst, und die Debatte wurde zusehends hitziger. Denn die Behörden verzeichneten rund 2000 gerissene oder verschwundene Nutztiere im vergangenen Jahr allein im Bereich der Almwirtschaft. Landwirte und Almpächter vor allem in den westlichen und südlichen Bundesländern Österreichs wehren sich entschieden gegen den ungebetenen Gast auf ihren Weiden, der Druck auf die Politik steigt. In Osttirol setzten Bauern in den vergangenen Wochen gar ein Kopfgeld von 1000 Euro auf einen Wolf aus, der auf den Hochalmen über dem Dorf Prägraten am Großvenediger 30 Schafe gerissen hatte. Das Tier, dessen Rückkehr in den Alpenraum Umweltschützer begeistert – für die Osttiroler Bergbauern ist es existenzbedrohend.
Sieben Wolfsrudel gibt es in Österreich
Sieben Wolfsrudel gibt es aktuell in Österreich, vier im nördlichen Niederösterreich, nahe der Grenze zu Tschechien, drei im Süden, im östlichen Kärnten und im angrenzenden Osttirol. Albin Blaschka hat die Entwicklung genau im Blick. Beim Geschäftsführer des "Österreichzentrum Bär Wolf Luchs" laufen alle Informationen über Wolfssichtungen und Risse von Weidetieren zusammen. Gen-Analysen von gerissenen Tieren erlauben dabei auch Rückschlüsse über die Herkunft der Raubtiere. Unterschieden werden beispielsweise sogenannte Haplotypen aus der Alpenregion (Südtirol, Norditalien, Schweiz), dem mitteleuropäischen Tiefland (Polen, Deutschland) oder dem Dinarischen Raum (Balkan-Länder).
Der Wolf von Prägraten war möglicherweise ein Jungtier. Im Alter von ein bis drei Jahren trennen sich die Jungen von ihrem Rudel und suchen sich ein eigenes Territorium und einen Partner, um selbst ein Rudel zu gründen. Die Karten des Österreichzentrums zeigen deutlich die Massierung, das gehäufte Vorkommen von Wölfen in Osttirol und Kärnten – genau dort, wo es zuletzt zu zahlreichen Rissen gekommen war. Blaschka und seine Mitarbeiter weisen jedem identifizierten Wolf eine Kennung zu: Diese setzt sich aus einer fortlaufenden Nummer, dem Geschlecht (M für männlich, W für weiblich), dem Kürzel "AT" für Österreich und dem Kürzel "K" für das Konrad-Lorenz-Institut, das die Gen-Analyse durchführt, zusammen. Einer der "Rekordhalter", was Risse an Weidetieren betrifft, war "120MATK". Während der Sommermonate 2021 hielt er sich in den Kärntner Bergen auf und hatte offensichtlich einen gewaltigen Appetit. Über 50 Schafe riss der Wolf in wenigen Wochen, bis er erlegt wurde.
Einer der "Rekordhalter" war "120MATK"
"Anders als in Deutschland gibt es in Österreich kein Bundesumweltschutzgesetz, die Regulierung von Natur- und Artenschutz und damit auch Jagdangelegenheiten ist in Österreich Sache der Bundesländer", erklärt Blaschka. Und anders als in Bayern, wo die am 1. Mai in Kraft getretene neue Wolfsverordnung von Kritikern als "Wahlkampfmanöver" von Markus Söders CSU abgetan oder als rechtlich anfechtbar kritisiert wird, nutzten Österreichs Länder ihren juristischen Spielraum: Fast überall schärften die Landesregierungen in den vergangenen Monaten und Jahren ihre Jagdverordnungen nach. Vielfach können nun Wölfe rascher "vergrämt" oder gleich geschossen werden – ohne langes Warten auf einen amtlichen Bescheid. Kärnten etwa setzte die Zahl der Risse eines "Problemwolfs" herab, die eine Voraussetzung für den Abschuss sind. Die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU stellt den Wolf zwar unter strengen Schutz, ermöglicht jedoch Ausnahmen zur Entnahme einzelner Tiere. Wenn sich Wölfe auf 200 Meter Häusern oder Wirtschaftsgebäuden nähern und so die öffentliche Gesundheit oder Sicherheit in Gefahr ist. Oder eben bei Schaden an Nutztieren.
Doch auch in Österreich ist teilweise unklar, ob die neuen Wolfsverordnungen der Bundesländer dem EU-Recht entsprechen. Die kleinteilige Struktur der österreichischen Landwirtschaft, die zahlreichen teils hoch gelegenen Almen mit ihren Weidetieren – diese vor dem Wolf zu schützen, sei eine echte Herausforderung, räumt Blaschka ein. Im Gebirge sei es oft schwer möglich, Herdenschutzzäune zu errichten. Laut Blaschka würden Weidetiere aber nur einen kleinen Bruchteil der Wolfsbeute ausmachen. Auffällig seien vor allem vermehrte Risse zu Beginn der Weidesaison, "danach verschwinden viele Wölfe und tauchen erst Monate später andernorts wieder auf", sagt er.
Präsident der Landwirtschaftskammer: Wolf hat in Österreich nichts verloren
Eine Lösung? Die liege seiner Ansicht nach unter anderem in einem den jeweiligen Bedingungen angepassten Schutzschema – und im Einsatz von Schutzhunden und Hirten. Blaschka verweist auf die Schweiz, die Hirten und Schutzhunde bereits in den 80er Jahren über Förderungen zurück auf die Almen gebracht hatte. "Zehn Jahre später, mit dem Wiedereintreffen der Beutegreifer, hat sich das klar als Vorteil erwiesen."
Die Landwirtschaftskammer will von solchen Plänen nichts wissen. Für deren Präsidenten, den Vorarlberger Josef Moosbrugger, steht fest: Der Wolf hat in Österreich nichts verloren. "Die Saison hat noch kaum begonnen, und die Bauern treiben ihre Tiere wieder von der Alm herunter", sagt er. "Die Nerven liegen zunehmend blank." Kein Landwirt habe Interesse, seine Tiere auf die Alm zu treiben, nur um sie dort dem Wolf auszuliefern.
Um finanzielle Entschädigung, die den Bauern zustehe, gehe es dabei nicht. "Da steckt Zuchtarbeit von Generationen dahinter", sagt Moosbrugger. Die Forderung nach Herdenschutz, das sei "eine grobe Utopie". Selbst in der Schweiz, wo vermehrt Schutzhunde zum Einsatz kämen, würden die Risszahlen kaum zurückgehen. Tausende Euro koste die Anschaffung eines Schutzhundes und dieser sei dann vielfach kaum drei Monate im Jahr im Einsatz und neun Monate arbeitslos. "Viele haben keine Ahnung, wie wenig profitabel Almwirtschaft ist." Bevor man jemanden anstelle, der sich um die Sicherheit der Tiere kümmere, mache man da lieber gleich die Türe zu. Und wenn eine Alm einmal geschlossen sei, ist Moosbrugger überzeugt, werde sie niemand mehr aufsperren.
Der Wolf kommt in unsere Nähe, wenn wir es ihm ermöglichen, sagt die Verhaltensbiologin
Moosbrugger ist sicher: Die Rückkehr des Wolfes, für den es "Platz gebe in Europa", allerdings nicht in den Alpen, habe das Potenzial, das Ende des Kulturraums in den Alpen einzuläuten. Er ist froh, dass Österreichs ÖVP-Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig in Brüssel versucht, eine Aufweichung der strengen EU-Gesetze zu erreichen. Dass die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler sich im Gegenzug auf EU-Ebene für Artenschutz starkmache, sei kontraproduktiv, meint er. Die Umweltministerin "lebt neben der Realität". Der Streit um den Wolf in der Alpenrepublik erinnert an den in Deutschland, in Bayern. In Österreich verlaufen die Gräben dabei quer durch die Regierungskoalition.
Zurück nach Ernstbrunn, wo sich die Wölfe inzwischen in ruhige Ecken ihrer Gehege zurückgezogen haben. Marianne Heberlein zuckt mit den Schultern, wenn man sie fragt, was ein "Problemwolf" sei. "Niemand definiert das eindeutig, was das eigentlich ist", sagt die Verhaltensbiologin. "Ein Wolf, der Nutztiere reißt? Einer, der sich den Menschen nähert? Wenn Herdentiere ungeschützt bleiben – nun, der Wolf verhält sich nur natürlich. Er lernt schnell, passt sich an, was seine Jagdbeute angeht. Wir aber definieren, was ein Problem ist und was nicht." Eine gewisse Selektion schade nicht, sagt sie und verweist auf Italien. Dort lebe man seit langem mit dem Wolf, immer wieder würden auch Wölfe geschossen. Es sei deshalb kein Zufall, dass die italienischen Wölfe sich eine gewisse Grundscheu vor dem Menschen erhalten hätten, vermutet sie. "Wenn wir es ihm aber ermöglichen, dann kommt er in unsere Nähe."