Als die britische Außenministerin Liz Truss am Dienstag in einem Statement ihr weiteres Vorgehen in Hinblick auf das Nordirland-Protokoll vorstellte, waren die Reihen im britischen Parlament nur halb gefüllt. Bewohner Nordirlands sahen darin womöglich einen Eindruck bestätigt, den sie nicht erst seit dem Brexit haben. Nämlich, dass man sich in London nicht wirklich für die Belange der Menschen in der Region interessiert.
Truss jedoch behauptete das Gegenteil: Man könne nicht länger warten, um die praktischen Probleme dort zu lösen. Zu den Forderungen, die London gegenüber Brüssel so schnell wie möglich durchboxen will, gehört unter anderem der freie Fluss von Waren nach Nordirland, die das Vereinigte Königreich nicht verlassen. Deshalb wolle die britische Regierung in den nächsten Wochen ein Gesetzgebungsverfahren vorstellen, mit dessen Hilfe Großbritannien notfalls einseitig Teile des Brexit-Deals aushebeln kann – für den Fall, dass die weiteren Verhandlungen mit der EU scheitern, eine Art Back-up-Plan also. Einen Handelskrieg mit dem europäischen Bündnis wolle man hingegen vermeiden, so die Ministerin.
Die Lage ist völlig verfahren
Es ist die Suche einer Lösung in einer schier ausweglosen Lage. Denn bevor es keine grundlegenden Änderungen des Nordirland-Protokolls gebe, so machte die protestantisch-unionistische Democratic Unionist Party (DUP) klar, wolle die Partei die gemeinsame Regierungsarbeit mit der nationalistischen Sinn-Fein-Partei, die sich für einen Zusammenschluss zwischen Nordirland und Irland ausspricht, nicht aufnehmen. Die Sinn-Fein-Partei, die einst als politischer Arm der IRA galt, wurde bei den Regionalwahlen Anfang Mai erstmals stärkste Kraft. Die DUP weigert sich nun jedoch, sich gemeinsam mit ihr an die Arbeit zu machen. Die Zeit des Redens sei vorbei, sagte der Parteichef der DUP, Sir Jeffrey Donaldson, diese Woche in Richtung Westminster. Der Grund: Das Protokoll verursache wirtschaftlichen Schaden und untergrabe die Position der Region innerhalb des Vereinigten Königreichs .
Im Zuge des Brexit-Deals mit der EU wurde die Zollgrenze zwischen Nordirland auf der einen und Schottland, England und Wales auf der anderen Seite in die Irische See verlegt, um sichtbare Kontrollen zwischen Nordirland und Irland zu verhindern und so den Frieden in der Provinz zu sichern. London hatte den Vertrag mit der EU unterschrieben, verschob die Einführung des Protokolls jedoch immer wieder, auch nachdem die EU bereits Zugeständnisse gemacht hatte. Jetzt fordert die DUP weitreichende Änderungen. Bis dahin werde sie keinen Vizeministerpräsidenten stellen und keinen Parteisprecher wählen, hieß es. Für die Region bedeutet das Stillstand.
Um die Wogen zu glätten, reiste Premierminister Boris Johnson am vergangenen Montag nach Nordirland. Bei seiner Ankunft in Schloss Hillsborough, südwestlich von Belfast, wurde er von Demonstranten mit Buhrufen begrüßt. Überrascht hat das wenige. Schon im Vorfeld war klar, dass es ein schwieriger Termin für ihn würde. Schließlich war er es, der 2020 betonte, dass es eine Grenze in der Irischen See nur über seine Leiche geben werde. Doch die Vereinbarung sieht eine eben solche Grenze für Waren und Güter vor.
Nordirland seit Brexit mit vollem Zugang zum Binnenmarkt der EU
Auf der anderen Seite stehen diejenigen in Nordirland, die an dem Protokoll festhalten wollen, weil es der Wirtschaft vor Ort im Vergleich zum Rest des Vereinigten Königreiches Vorteile gebracht habe, wie Stephen Kelly von Manufacturing Northern Ireland (MNI), einer Organisation, die sich unter anderem mit den Folgen des Brexits für Unternehmen beschäftigt, bestätigt. Schließlich hat Nordirland seit dem Brexit vollen Zugang zum Binnenmarkt der EU und dies, so betonen Experten, würde die Nachteile durch Kontrollen, bedingt durch die Grenze in der Irischen See, wettmachen. Es ist es nicht ausgemacht, dass sich die ultrakonservative DUP nun mit dem Arrangement zufriedengeben wird. Parteichef Donaldson bezeichnete Truss’ Ankündigung zwar als einen „bedeutenden Schritt“. Am Ende zählten jedoch nicht Worte, sondern Taten.