Wenn Politiker zeigen wollen, dass sie etwas verändern, gehen sie gerne dorthin, wo ihre Entscheidungen Wirkung zeigen sollen. So präsentierten sich Gesundheitsminister Wes Streeting und der Labour-Premierminister Keir Starmer zu Wochenbeginn in einem Notrufzentrum in Ost-London. Dort machten sie darauf aufmerksam, wie sie dem staatlichen Gesundheitssystem NHS, das vielen Briten heilig ist, wieder auf die Beine helfen wollen. „Der NHS ist kaputt, aber er ist nicht am Ende", sagte Streeting. Und Starmer versprach: „Wir werden ihn reparieren" und „fit für die Zukunft machen".
Damit hat sich die Regierung, die seit Anfang Juli im Amt ist und die konservative Regierung ablöste, viel vorgenommen. Denn das Gesundheitssystem steckt seit Jahren in einer immer tieferen Krise. „In den 14 Jahren unter den Tories sind die öffentlichen Investitionen massiv zurückgegangen, vor allem im Bereich der Prävention”, sagt Sophie Stowers von der Denkfabrik UK in a Changing Europe unserer Redaktion. Es gibt weniger Betten und weniger Personal. Krankenhäuser sind nicht renoviert, IT-Systeme nicht aktualisiert, technische Geräte nicht erneuert worden. Lange Wartelisten seien die „Normalität", heißt es in einem aktuellen Bericht der Labour-Regierung. Die Notaufnahmen seien in einem „schrecklichen Zustand” und Briten müssten regelmäßig um einen Termin beim Hausarzt kämpfen.
Großbritannien: Lokale Gesundheitszentren sollen die Versorgung verbessern
Um die Situation langfristig zu verbessern, will Labour Medienberichten zufolge in den kommenden Monaten weitere Milliarden in den staatlichen Gesundheitsdienst pumpen. Da der NHS – anders als in Deutschland – nicht über eine Versicherung, sondern über Steuern finanziert wird, könnte Finanzministerin Rachel Reeves in ihrem Haushalt, der kommende Woche öffentlich wird, unter anderem Steuern für Unternehmen und Selbstständige erhöhen. Das Problem: Ihr Versprechen, die Belastungen „für die arbeitende Bevölkerung" kleinzuhalten, steht damit auf dem Prüfstand.
Reeves hofft Beobachtern zufolge jedoch, dass die Öffentlichkeit eine milliardenschwere Erhöhung der Unternehmenssteuern akzeptieren wird, wenn sie an die Sanierung des Gesundheitssystems gekoppelt ist. Dabei setzt Labour insbesondere auf langfristige Reformen und Prävention, wie Stowers betont. „Unser Zehn-Jahres-Gesundheitsplan wird den NHS auf den Kopf stellen und ihn in einen bürgernahen Gesundheitsdienst verwandeln”, versprach Streeting am Wochenende. Eine der wichtigsten Maßnahmen ist die Einrichtung neuer lokaler Gesundheitszentren in den kommenden Jahren. Diese sollen näher am Wohnort der Menschen liegen und den Briten ermöglichen, Hausärzte, Pflegepersonal und andere medizinische Fachkräfte im selben Gebäude aufzusuchen. Bisher müssen Patienten für Untersuchungen bei einem Facharzt in das nächstgelegene Krankenhaus fahren.
Tragbare Technologien wie Smartwatches für „Millionen von Menschen" sollen zudem bei der Überwachung des Blutdrucks und des Blutzuckers helfen und so die Früherkennung fördern. Geplant ist auch eine digitale Patientenakte, die Briten über die NHS-App einsehen können und den Zugang zu Daten erleichtert. Laut Labour sollen so Zehntausende Arbeitsstunden pro Jahr eingespart werden, sodass mehr Zeit für die Patienten bleibt.
Die Privatisierung des staatlichen NHS wird sehr kritisch gesehen
„Viele Bürger sehen es positiv, wenn der Datenaustausch zwischen verschiedenen Gesundheitseinrichtungen verbessert wird”, sagt Stowers. Deutlich kritischer stehe die Bevölkerung hingegen der Weitergabe von Gesundheitsdaten etwa an Pharmafirmen gegenüber. Für viele Briten ist der staatliche NHS mit großem Nationalstolz verbunden. Auch deshalb stehen sie jeder Form von Privatisierung oft sehr kritisch gegenüber, so die Expertin.
Schlagzeilen machte die sozialdemokratische Regierung dieser Tage mit dem Vorschlag, ein Medikament zur Gewichtsreduktion könne dazu beitragen, mehr Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Der Regierung wurde daraufhin vorgeworfen, Arbeitslose zu stigmatisieren und Bürger auf ihren wirtschaftlichen Wert zu reduzieren. Streeting wies den Vorwurf, der Vorschlag sei „dystopisch“, am Sonntag jedoch vehement zurück.
Stowers vermutet jedoch, dass eine solche Maßnahme, wenn überhaupt, nur in sehr begrenztem Umfang und in besonderen medizinischen Fällen eingesetzt wird. Experten fordern überdies eine zuckersteuerähnliche Abgabe für Lebensmittel-Konzerne und Fast-Food-Ketten. Schließlich stehen die Briten seit Jahren ganz oben auf der Liste der übergewichtigsten Europäer. Schritte der Labour-Regierung in diese Richtung seien denkbar, so die Politologin.
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