Von Emmanuel Macron heißt es oft, er wolle stets der „Herrscher über die Uhren“ sein – der Mann, der den Takt vorgibt. Das ist Frankreichs Präsident gelungen, indem er am Sonntagabend, eine Stunde nachdem die ersten Hochrechnungen der EU-Wahl offiziell bekannt waren, für einen politischen Paukenschlag sorgte. Angesichts des enttäuschenden Ergebnisses von 15 Prozent für sein Lager – gegenüber 31,5 Prozent für den rechtsextremen Rassemblement National (RN) – könne er „nicht so tun, als wäre nichts gewesen“, sagte er während seiner kurzfristig anberaumten Ansprache. Er werde sogleich die Auflösung der Nationalversammlung anordnen und setze Parlamentswahlen in nur wenigen Wochen an, am 30. Juni und 7. Juli – regulär wäre es demnach erst in drei Jahren so weit gewesen.
Die Franzosen reagierten wahlweise verblüfft, geschockt oder verärgert. Aber immerhin, Macron hatte es wieder geschafft: Die Reaktionen über sein überraschendes Vorgehen bestimmten am Montagmorgen die Debatten in Frankreich. Fotos von ihm mit ernster Miene und nicht etwa des triumphierenden Wahlsiegers, des RN-Chefs Jordan Bardella, prangten auf den Titelseiten der Zeitungen. Einmal mehr gab der Präsident den Takt vor und stahl den Rechtsextremen die Show. „Der Donnerschlag“, titelte Le Parisien. „Die verrückte Wette“, schrieb die Zeitung L’Humanité.
Der Wahlkampf geht nahtlos weiter – das gefällt nicht jedem
Die Oppositionsparteien begrüßten zwar diese neue Entwicklung weitgehend. Doch hinter vorgehaltener Hand zeigten sich manche auch besorgt, nach den zurückliegenden aufreibenden Wochen sofort wieder in einen neuen Wahlkampf starten zu müssen. Der sozialistische Listenführer Raphaël Glucksmann warf dem Präsidenten vor, Bardella zu „gehorchen“, indem er auf dessen Forderung einging.
Nichts war vorab an die Öffentlichkeit durchgesickert – Macron gelang ein echter Coup. Doch werden ihm der Überraschungsmoment, sein Hang zum Zocken an der Urne nutzen? Seit den Parlamentswahlen 2022 verfügt sein Lager mit 239 von 577 Abgeordneten nur noch über eine relative Mehrheit in der Nationalversammlung. Mehrmals fehlten Bündnispartner für umstrittene Gesetze wie die Rentenreform.
Der erst 28-jährige Spitzenkandidat Bardella punktete bei jungen Wählern
Der RN hatte die Menschen dazu aufgerufen, die Regierung abzustrafen – das bedingte seinen Erfolg mit. Zugleich handelt es sich längst nicht mehr um eine reine Protestpartei. Der erst 28 Jahre alte Bardella zieht besonders viele junge Leute an, für die der Nachfolger des einstigen Front National jeden Schrecken verloren hat. Der langjährige Chef Jean-Marie Le Pen, der mehrmals wegen rassistischer und antisemitischer Aussagen verurteilt wurde, hat keinen Einfluss mehr. Aktuell verfügt die Partei über 88 Sitze in der Nationalversammlung. Marine Le Pen ist dort Fraktionschefin und hat den Parteivorsitz an Bardella abgegeben. Sollte wirklich die absolute Mehrheit von 289 erreicht werden, ginge das Amt des Premierministers an ihn. „Wir sind bereit, die Macht zu übernehmen“, ließ Le Pen noch am Wahlabend wissen.
Am Ende könnte eine Blockade-Situation stehen
Doch dass es so weit kommt, sei keineswegs sicher, betonte der Politologe Pascal Perrineau. „Mit einer relativen Mehrheit hätte der RN dieselben Schwierigkeiten wie die Regierungspartei heute.“ Vielmehr stünde eine Blockade-Situation an. Der Präsident gehe mit seiner Entscheidung ein echtes Risiko ein, so Perrnieau. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Strategie „zu einer Rückkehr Macrons als Chef eines Anti-RN-Lagers“ führe, halte er für gering, auch wenn der Generalsekretär, Außenminister Stéphane Séjourné, ankündigte, eigene Kandidaten zugunsten anderer „demokratischer Parteien“ zurückzuziehen. Es ist ein Angebot an alle außer den RN und die Linkspartei La France Insoumise („Das unbeugsame Frankreich“), kurz LFI.
Das könnte die Spaltung des links-grünen Bündnisses Nupes, bestehend aus LFI, Sozialisten, Grünen und Kommunisten noch beschleunigen. Dieses hat sich aufgrund der wiederholten Provokationen von LFI-Frontmann Jean-Luc Mélenchon zerstritten. Bei der EU-Wahl traten die Parteien jeweils mit eigenen Kandidaten an, das beste Ergebnis erzielten die Sozialisten. Die konservativen Republikaner wiederum, die leichte Einbußen hatten, stehen mit ihren aktuell 61 Abgeordneten in der Nationalversammlung ebenfalls nicht stark genug da, um ohne Bündnispartner Einfluss auszuüben.
Macron selbst sagte am Sonntagabend, es handle sich bei seinem Beschluss „in erster Linie um einen Akt des Vertrauens: Vertrauen in die Fähigkeit des französischen Volks, die beste Entscheidung für sich selbst und die zukünftigen Generationen zu treffen“. Nun hat es die Bevölkerung in der Hand.