Man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Auch wenn in Wien nun eine Dreier-Koalition aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen verhandelt wird – Stabilität, auch im pro-europäischen Sinne, ist für Österreich in den kommenden Jahren keineswegs zu erwarten.
Zuallererst stehen die drei Parteien und ihre Chefs, allen voran der noch amtierende ÖVP-Kanzler Karl Nehammer, vor äußerst schwierigen Verhandlungen. Nehammer hat ein eigentlich unlösbares Problem, muss einen Spagat sondergleichen bestehen: Er will und muss weiter versuchen, die Sympathien derjenigen zurückzugewinnen, die sich Ende September für die extreme Rechte entschieden haben. Es soll also um Migration und Flucht gehen. Gleichzeitig soll Österreich verlässlicher Partner auf EU-Ebene bleiben, der Wirtschaftsstandort soll gestärkt, Jobs geschaffen und die Steuern wie die Staatsverschuldung gesenkt werden. Seine Partner in Spe haben ihre eigenen Vorstellungen: Die liberalen NEOS wollen die verknöcherten Strukturen in der Verwaltung auflösen, Österreich verschlanken und modernisieren, was für die ÖVP nicht zwingend von Interesse sein wird – schließlich stehen hier auch zahllose Jobs und Posten für die bald seit 40 Jahren durchgehend in der einen oder anderen Form regierenden Konservativen auf dem Spiel.
Nehammer lässt Hintertür zur FPÖ offen
Den Sozialdemokraten geht es um Kinderbetreuung, leistbares Wohnen, eine Lösung beim eklatanten Pflege-Notstand und eine Verbesserung des einst in Österreich hervorragenden, inzwischen heruntergewirtschafteten Gesundheitssystems. Wenn die SPÖ in rund einem Jahr ihre so wichtige Landeswahl in Wien gewinnen will, muss sie in Nehammers künftiger Dreier-Koalition liefern. Die massiven internen Zerwürfnisse der Roten werden die Verhandlungen noch weiter verkomplizieren. Es wird sich also ziehen, bis eine Regierung steht. Und wer Nehammer am Dienstag genau zugehört hat, weiß: Der ÖVP-Chef lässt für seine Partei die Hintertür, auch zur FPÖ, weit offen.
In der Zwischenzeit wird Herbert Kickl, der sich in NS-Rhetorik als kommender „Volkskanzler“ inszeniert, die Regierung und das Land vor sich hertreiben. Der FPÖ-Chef weiß, dass die Dreier-Koalition für Österreich ein Experiment bedeutet, enorme Fliehkräfte aufweist und in der ÖVP viele nur darauf warten, doch mit der FPÖ zu koalieren. Jede Krise, jede globale Eskalation, seien es die US-Wahlen, Russlands Krieg in der Ukraine oder ein Sparpaket, das Nehammers Koalition verordnen muss – Kickl weiß, dass sich die für ihn und seinen rechtsextremen Populismus günstigen Rahmenbedingungen so rasch nicht ändern werden. Er weiß um den Unmut, den der Schritt des Bundespräsidenten, der ihn übergangen hat, in seiner Anhängerschaft ausgelöst hat. Und Kickl weiß um die Macht der Straße, er weiß, in welchem Ausmaß er im Verbund mit dem organisierten Rechtsextremismus, wie den neofaschistischen „Identitären“ oder Corona-Leugnern und -Verharmlosern, mobilisieren kann, wenn es ihm taktisch in den Plan passt. Für Kickl ist Opposition kein Problem. Er hat Zeit, ist ein geübter Taktiker und das Warten gewohnt.
Die ÖVP hofft, dass die Welle der extremen Rechten bricht
Die ÖVP, so scheint es, hat mögliche weitere Wahlverluste bei anstehenden Landes- und Regionalwahlen eingepreist – und hofft danach auf einige Jahre relativer Ruhe. Sie setzt darauf, dass sich das Phänomen Kickl dann irgendwie tot läuft, die Welle der extremen Rechten irgendwann bricht. Genau darin liegt das Dilemma der Konservativen. Will Kanzler Nehammer ernsthaft die Kickl-FPÖ und damit ein Abgleiten Österreichs in den Autoritarismus verhindern, wird er Abstriche machen müssen – und diese werden seinen Parteifreunden schmerzen. Ansonsten werden Nehammers Tage an der Spitze der ÖVP und im Kanzleramt weit vor Ablauf dieser Legislaturperiode gezählt und auch das Dreier-Experiment rasch Geschichte sein. Und jene in der ÖVP, die schon jetzt gerne mit den extremen Rechten möchten, dankbar auch im Bund den Juniorpartner geben.
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