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Nato-Osterweiterung: Welche Zusage bekam Russland 1990?

Interview

Was haben wir den Russen 1990 wirklich versprochen, Herr Waigel?

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    Schicksalstage im Kaukasus: In der Heimat von Michail Gorbatschow (links) bekam Helmut Kohl (rechts) 1990 das Ja aus Moskau für die Wiedervereinigung. Theo Waigel (hinter Gorbatschow) war in den entscheidenden Stunden dabei.
    Schicksalstage im Kaukasus: In der Heimat von Michail Gorbatschow (links) bekam Helmut Kohl (rechts) 1990 das Ja aus Moskau für die Wiedervereinigung. Theo Waigel (hinter Gorbatschow) war in den entscheidenden Stunden dabei. Foto: dpa

    Herr Waigel, Sie waren dabei, als 1990 im Kaukasus der Poker um die Deutsche Einheit entschieden wurde. Es ging vor allem darum, ob die Sowjetunion der Nato-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland zustimmt. Heute behauptet Wladimir Putin, der Westen habe sein Versprechen von damals gebrochen, Nato und EU nicht in Richtung Osten auszudehnen. Was ist an diesem Vorwurf dran?

    Theo Waigel: An diesem Vorwurf ist nichts dran. Es wurde damals kein einziges Wort über eine Erweiterung der Nato gesprochen. Wir haben 1990 ausschließlich die Frage diskutiert, was auf dem Gebiet der DDR passiert. Und dazu lagen in diesen Wochen alle möglichen Vorschläge auf dem Tisch. Für uns war es aber weder akzeptabel, dass Deutschland ein neutraler Staat wird, noch dass es Teil beider Bündnisse sein soll, also der Nato und des damals noch existierenden Warschauer Pakts. Das wäre absurd gewesen und das hat auch Michail Gorbatschow eingesehen.

    Theo Waigel hat die Wiedervereinigung 1989 und 1990 als CSU-Chef und Bundesfinanzminister mitgestaltet.
    Theo Waigel hat die Wiedervereinigung 1989 und 1990 als CSU-Chef und Bundesfinanzminister mitgestaltet. Foto: Benedikt Siegert (Archivfoto)

    US-Außenminister James Baker und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hatten allerdings zunächst öffentlich versichert, das Nato-Gebiet nicht nach Osten ausdehnen zu wollen. Erst später wurde Baker vom Weißen Haus zurückgepfiffen.

    Waigel: Das war in einer sehr frühen Phase der Gespräche, wurde aber nie in die offiziellen Verhandlungen eingebracht – auch nicht von sowjetischer Seite. Es gab nie eine Forderung aus dem Kreml, das zum Bestandteil eines Vertrages zu machen. Wir mussten uns aber natürlich erst einmal herantasten, zu welchen Bedingungen eine Wiedervereinigung überhaupt denkbar war.

    Gorbatschow hatte sich offenbar früh mit dem Gedanken beschäftigt, die DDR aus dem sowjetischen Einflussbereich zu entlassen. Es gab aber durchaus Kritiker, die mit Blick auf andere Staaten in Osteuropa davor warnten. Heute gilt Gorbatschow in Russland als schwacher Anführer.

    Waigel: Bei den entscheidenden Gesprächen im Kaukasus war deutlich zu spüren, dass Gorbatschow und sein Außenminister Eduard Schewardnadse zu einem echten Neuanfang in Europa bereit waren – das konnte man nicht von allen Anwesenden am Tisch behaupten. Dass Gorbatschow die DDR freigegeben hat, war kein Zeichen von Schwäche. Die DDR existierte doch ohnehin nur noch dank billiger sowjetischer Energielieferungen. Außerdem kostete die riesige militärische Präsenz dort Unsummen, was angesichts der eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Sowjetunion immer problematischer wurde, die DDR war pleite. Hinzu kam die Erkenntnis, dass Moskau den Rüstungswettlauf nicht gewinnen konnte. Deshalb hat Gorbatschow entschieden, besser mit einem wiedervereinigten Deutschland gute Beziehungen zu pflegen, als eine marode DDR zu stützen, in der eine Oligarchie von alten, unfähigen Männern herrschte.

    Die DDR war dann aber nur der Anfang. Gorbatschows interne Gegner fühlten sich bestätigt, der Warschauer Pakt zerbrach und einige Mitglieder wurden später eben doch Mitglied der EU und der Nato.

    Waigel: Das konnte damals doch niemand absehen. Es war im Übrigen nicht Gorbatschow, sondern Boris Jelzin, der die Sowjetunion aufgelöst hat. Jener Mann also, der später Wladimir Putin zur Macht verhalf. Zur Wahrheit gehört außerdem: Jene Staaten, die sich Richtung Westen orientiert haben, taten dies auch, weil sie Demokratie und Freiheit wollten und Angst davor hatten, was passiert, wenn in Moskau wieder andere Kräfte ans Ruder kommen. Wie man heute leider sieht, war diese Angst nicht unbegründet.

    Jelzin sagte damals, die Zeiten, in denen Moskau Ländern wie Polen vorgeschrieben hat, was sie tun sollen, seien vorbei. Wollte er wirklich mehr Freiheit wagen oder war er einfach zu schwach, um diese Staaten an Moskau zu binden?

    Waigel: Er hatte erkannt, dass es keinen Sinn macht, Länder zu knechten und nur mit militärischer Macht an sich zu ketten. Jelzin hat tatsächlich auf ein gutes Nebeneinander gehofft. Ich kann mich noch gut erinnern, als er 1992 erstmals bei einem G7-Gipfel dabei war. Ich habe ihn damals vom Münchner Flughafen abgeholt und zu einem Treffen mit US-Präsident George Bush begleitet. Bei der Begrüßung kam es zu einer berührenden Umarmung der beiden Männer und man hat gespürt: Die meinen das ernst.

    Heute behauptet Putin, der Westen habe Moskau über den Tisch gezogen, als er seinen Einflussbereich Richtung Russland ausgedehnt hat.

    Waigel: Dann frage ich mich, warum er das nicht schon im Jahr 2001 im Deutschen Bundestag gesagt hat. Stattdessen hielt er eine großartige, positive Rede und rief ein neues friedliches Zeitalter zwischen den einst verfeindeten Blöcken in Ost und West aus. Sein heutiger Schmerz über den Untergang der Sowjetunion wurde ihm offenkundig erst später eingeimpft. Er ist der Einflüsterung dämonischer Kräfte erlegen und dabei letztlich selbst zum politischen Dämon geworden.

    Theo Waigel und Michail Gorbatschow verbindet bis heute ein ganz besonderes Verhältnis.
    Theo Waigel und Michail Gorbatschow verbindet bis heute ein ganz besonderes Verhältnis. Foto: Sammlung Waigel

    Wird auch Putin irgendwann zu der Erkenntnis kommen, dass es keinen Sinn ergibt, ein Land wie die Ukraine mit Gewalt an sich zu binden?

    Waigel: Man kann das nur hoffen. Angesichts seiner gegenwärtigen Gedankengänge kann man es aber nicht erwarten. Ich bin konsterniert und fassungslos über so viel Kaltblütigkeit. Er zerstört ein Land, er knechtet ein Volk, er nimmt zehntausende Tote in Kauf, er isoliert sich in der Welt.

    Wie muss die Welt darauf reagieren?

    Waigel: Nur wenn Putin spürt, dass der Preis für seine Taten um ein Vielfaches höher ist als der mögliche Gewinn, könnte ihn das dazu bewegen, den Wahnsinn in der Ukraine zu stoppen.

    Nun fragen sich viele Menschen in Deutschland, wie groß die Gefahr für uns ist. Die Bundeswehr ist ein Schatten früherer Tage. Auch das hat mit der Wiedervereinigung zu tun. Damals hatte sich Deutschland verpflichtet, seine Streitkräfte massiv zu reduzieren. War das aus heutiger Sicht naiv?

    Waigel: Nein, denn wir wollten und mussten ein Zeichen setzen, dass von einem großen wiedervereinigten Deutschland keine Gefahr für Europa oder die damals noch existierende Sowjetunion ausgeht. Deshalb haben wir zugestimmt, die Bundeswehr von etwa 500.000 Mann auf rund 320.000 zu verkleinern und die NVA zu integrieren. Das war vertretbar. Das Problem ist vielmehr, dass Deutschland die Notwendigkeit, sich selbst gegen potenzielle Bedrohung verteidigen zu können, in den vergangenen Jahren massiv unterschätzt hat.

    Wie kam es dazu?

    Waigel: Starke gesellschaftliche und politische Kräfte haben dazu einfach keine Notwendigkeit mehr gesehen. Wenn ich nur daran denke, was für einen Eiertanz wir noch vor kurzem um die Bewaffnung der Bundeswehr mit Drohnen gemacht haben, dann zeigt das, wie die Stimmungslage in Deutschland gewesen ist. Es war ganz sicher ein Fehler, die Bundeswehr so runterzufahren und die notwendige Modernisierung zu vernachlässigen.

    Nun legt Bundeskanzler Olaf Scholz 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auf den Tisch. Reicht das?

    Waigel: Wir wissen ja noch gar nicht, was mit diesem Geld konkret passieren soll. Dazu gehört auch modernes Gerät. Die Bundesverteidigungsministerin muss dringend ein Konzept vorlegen, wofür sie es ausgeben will. Wir brauchen eine ehrliche Bilanz, wo die Schwachpunkte liegen und was es kostet, sie zu beheben. 100 Milliarden Euro klingt nach einer gigantischen Summe, es kann aber durchaus sein, dass dieses Geld ganz schnell verplant ist. Grundsätzlich stehe ich aber hinter diesem Kurswechsel. Es war ein Fehler, das mit der Nato vereinbarte Ziel, zwei Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung in die Verteidigung zu investieren, so lange nicht einzuhalten.

    Sie haben als Kind den Zweiten Weltkrieg erlebt. Ihr Bruder ist im Kampf gefallen. Was empfinden Sie, wenn Sie auf die Ukraine schauen?

    Waigel: Ich erinnere mich daran, wie der Bürgermeister von Oberrohr uns die bittere Nachricht vom Tod meines Bruders überbracht hat. Wie wir in der Nacht auf die Straße gelaufen sind und das 40 Kilometer entfernte brennende Augsburg am Horizont gesehen haben und später das brennende Ulm. Wie meine Taufpatin sich in der Bombennacht von Augsburg mit dem Zug und zu Fuß auf den Weg nach Oberrohr gemacht hat. Wie die Amerikaner einmarschiert sind. An all das denke ich in diesen Tagen. Und natürlich an das, was danach kam. An die Konfrontation im Kalten Krieg und dann aber eben auch diese glückseligen Momente 1989 und 1990, denen Jahrzehnte des Friedens folgten. Dass dieser Frieden nicht selbstverständlich war, müssen wir heute erleben.

    Macht Ihnen das Angst?

    Waigel: Angst ist etwas, das man als Politiker nicht in sich wirken lassen darf. Denn Angst lähmt. Aber es macht mich wütend und besorgt.

    Glauben Sie, dass Putins Machthunger gestillt ist, wenn er seine Ziele in der Ukraine erreichen sollte?

    Waigel: Ich hoffe, dass die Sanktionen, wie es sie noch nie gab, ihm über kurz oder lang deutlich machen werden, dass es sich nicht gelohnt hat und er sich weitere Aggressionen nicht mehr leisten kann. Ich hoffe das. Ob ein Mann mit einem derart dämonischen Denken zu dieser Einsicht fähig ist? Ich kann es Ihnen nicht sagen.

    Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.

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