Fast jeden Tag feuert Recep Tayyip Erdogan im Streit um die Nato-Norderweiterung eine neue verbale Breitseite gegen den Westen ab. Am Freitag behauptete er, mit Finnland und Schweden würden die kurdischen Extremisten von der PKK in die westliche Allianz kommen: „Wir können nicht Ja zum Nato-Beitritt dieser Terrororganisationen sagen“, teilte der 68-jährige nach dem Freitagsgebet in Istanbul mit. Er warf den beiden skandinavischen Staaten erneut vor, militante Kurden aufzunehmen und zu bewaffnen. Erdogan kritisierte auch Deutschland, Holland, Frankreich und die USA wegen deren angeblicher Unterstützung für die PKK und deren syrische Schwesterorganisation YPG.
Erdogans Nein heißt nicht, dass er nicht reden will. Nach einem Telefonat mit dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte will er an diesem Wochenende mit Spitzenvertretern von Großbritannien und Finnland sprechen. Einen Teilerfolg konnte er bereits feiern: Großbritannien hob alle Beschränkungen für Waffenlieferungen an die Türkei auf.
Hauptadressat der Türkei sind die USA
Der türkische Präsident pokert, wie der frühere türkische Spitzendiplomat Faruk Logoglu es formuliert. Finnland und Schweden sitzen zwar an Erdogans Spieltisch, sind aber nicht so wichtig. Von den skandinavischen Staaten fordert die Türkei nach Angaben von Erdogans Außenminister Mevlüt Cavusoglu vor allem ein Ende ihres Waffenembargos gegen Ankara sowie die Zusage, dass sie keine Waffen an die YPG liefern werden.
Doch der Hauptadressat der Türken in dieser Partie mit hohem politischem Einsatz sind die USA. Cavusoglu gewährte jetzt nach einem Treffen mit seinem amerikanischen Kollegen Antony Blinken in New York einen Einblick in den türkischen Forderungskatalog. Die Begegnung sei „sehr positiv“ verlaufen, sagte Cavusoglu nach einer Meldung der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu.
Drei Hauptforderungen hat die Türkei
Drei Hauptforderungen Ankaras an die USA zur Lösung des Nato-Streits schälen sich nach Cavusoglus Schilderung heraus – und sie haben nichts mit Skandinavien zu tun. Erstens will die Türkei, dass Washington seine Zusammenarbeit mit der YPG in Syrien aufgibt. Die US-Unterstützung für die PKK-nahe Gruppe ärgert die Türkei schon seit Jahren, doch die Amerikaner sehen die YPG als wichtigen Partner im Kampf gegen den IS und statten die Kurden weiter mit Waffen aus.
Zweitens verlangt Ankara ein Ende der US-Sanktionen, die nach der Lieferung eines russischen Flugabwehrsystems an die Türkei verhängt wurden. Und drittens will Erdogan die amerikanische Regierung dazu bringen, den Lieferstopp für hochmoderne F-35-Kampfjets an Ankara aufzuheben und außerdem F-16-Flugzeuge an die Türkei zu verkaufen. Der frühere Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer sagte dem Magazin Politico, die Lieferung der F-16 sei möglicherweise der Preis für die Zustimmung.
US-Präsident Biden will nicht in die Türkei reisen
Blinken, US-Sicherheitsberater Jake Sullivan und Präsident Joe Biden zeigten sich zuversichtlich, dass sie sich mit der Türkei einigen und den Weg für Finnland und Schweden in die Nato öffnen können. „Ich glaube, wir werden ok sein“, sagte Biden. Einzelheiten wurden nicht bekannt, doch möglicherweise sind noch andere türkische Forderungen im Spiel. Ungefragt sagte Biden, er werde nicht in die Türkei reisen – ein Besuch des amerikanischen Präsidenten wäre ein Prestigegewinn für Erdogan ein Jahr vor den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen.
Erdogan wolle ein Entgegenkommen des Westens für sich herausholen, um nationalistischen Wählern zu imponieren, schrieb Timothy Ash vom Vermögensverwalter Bluebay auf Twitter. Einige Beobachter sehen bei Erdogan nicht nur die Entschlossenheit, eine Chance für Zugeständnisse der USA zu nutzen, sondern auch pure Lust am riskanten Spiel mit hohem Einsatz. Die Türkei-Expertin Gönül Tol sagte dem US-Sender NPR, der türkische Staatschef sei unberechenbar, aber pragmatisch. Erdogan gehe mit Maximalforderungen in Verhandlungen, begnüge sich am Ende aber mit weit weniger. „Erdogan nervt – und das will er auch“, ließ sich ein hochrangiger Nato-Vertreter von der US-Nachrichtenseite Daily Beast zitieren.