Verschiedener hätten die Mädchen nicht sein können – die schüchterne, für ihr Alter große Hannah und die kleinere, quirlige Anne mit den dunklen Augen, die fast jeder, der sie kennengelernt hat, später nicht mehr vergisst. Die Geschichte der Freundschaft, die Hannah Pick-Goslar in dem Buch „Meine Freundin Anne Frank“ (Penguin Verlag, 400 Seiten, 24 Euro) beschreibt, hat drei Fixpunkte: das Kennenlernen, die plötzliche Trennung, letzte kurze Begegnungen in der Hölle des Konzentrationslagers Bergen-Belsen.
Dazwischen liegt viel Leben. Der erste Schultag, kleine Abenteuer im Amsterdamer Viertel Merwedeplein, später erste Blicke auf die Jungs in der Schule. Dann die deutsche Besatzung, die zeitversetzt für die jüdischen Familien in den Niederlanden die gleichen willkürlichen Einschränkungen des Lebens bringt wie den Juden im Deutschen Reich. Aus den Einschränkungen werden steigende Repressionen, schließlich Deportationen in die Vernichtungslager in Deutschland und Polen. Hannah Pick-Goslar schildert ihre Zeit mit Anne Frank, die durch ihre Tagebücher nach ihrem Tod weltberühmt werden sollte – unprätentiös, mit wunderbaren Details. Sie schreibt, wie die Freundinnen um ihre Nischen der Unbekümmertheit in einer zusammenbrechenden Welt kämpfen.
Das Dunkel, der Horror rücken unaufhaltsam näher
Genau das ist das Schmerzhafte an der Lektüre. Der Blick auf diese beiden Mädchen, ihre – zumeist ebenfalls jüdischen – Freundinnen, ihren Alltag. Man amüsiert sich über Streiche, die Marotten eines Lehrers, die verrückten Ideen der aufgeweckten Anne. Doch immer wieder erfasst den Leser unvermittelt das Grauen wie ein Schlag: Die Gewissheit, dass das Dunkel, der Horror unaufhaltsam näherrücken. Die Unfassbarkeit, dass sich Menschen das Recht genommen haben, diese Mädchen, ihre Eltern und Bekannte, ja Juden per se, erst Schritt für Schritt vom öffentlichen Leben auszuschließen, um sie dann zu vernichten.
Hannah Goslar wird im November 1928 in eine angesehene Familie hineingeboren. Der Vater Hans Goslar kann sich als Ministerialrat bei der preußischen Regierung ein gediegenes Domizil in Berlin-Tiergarten leisten. Rechtzeitig emigriert die Familie 1933 nach der Machtübernahme der Nazis. Als Vater Hans in London keine beruflichen Perspektiven sieht, geht es weiter in die Niederlande. Eine verhängnisvolle Entscheidung.
Die kleine Hannah, „Hannelie“ genannt, klammert sich in der ungewohnten Umgebung noch enger an die Mutter. Dann trifft sie in einem kleinen Lebensmittelladen auf Anne. Die beiden sehen sich im Kindergarten wieder, besuchen gemeinsam die Montessorischule und später das Jüdische Lyzeum. Anne wird zu Hannahs Schlüssel nach draußen, gemeinsam erobern sie das Merwedeplein-Viertel, in dem immer mehr jüdische Familien auf der Flucht vor den Nazis landen. Hannah beneidet Annes bisweilen auftrumpfende Art, findet die intelligente Freundin aber manchmal auch anstrengend. „Meine Mutter hat Anne Frank gut beschrieben. Sie sagte: 'Gott weiß alles, aber Anne weiß es besser'“, erinnert sich Hannah Pick-Goslar.
Die Eltern der beiden Familien, die sich ebenfalls angefreundet haben, beraten verzweifelt, wie sie sich aus der schier ausweglosen Lage befreien könnten. Doch die Grenzen sind zu. Familie Frank taucht unter, als sie aufgefordert wird, sich beim Reichsarbeitsdienst zu melden. Getarnt ist die Aktion als Flucht in die Schweiz. Jeder Mitwisser ist eine Gefahr, und so ist es für Hannah eine traumatische Erfahrung, als sie am 7. Juli 1942 Anne mit einer Freundin besuchen will und die Wohnung verwaist vorfindet. Die Franks werden nach über zwei Jahren in ihrem Versteck am 4. August 1944 von der Gestapo verhaftet – in dieser Zeitspanne entstehen Annes Tagebücher. Hannah, deren Mutter 1942 im Wochenbett stirbt, ereilt dieses Schicksal zusammen mit ihrem Vater, ihren Großeltern und der 1940 geborenen jüngeren Schwester Gabi bereits im Juni 1942.
Freundschaft im Nazi-Reich: Sie dachte, sie trifft Anne Frank nie wieder
Sie wird ihre Freundin nie wieder treffen, da ist sich Hannah ganz sicher. Doch es kommt anders. Im Februar 1945 erfährt sie im KZ Bergen-Belsen, dass Anne nur wenige Meter entfernt von ihr untergebracht ist. Unter Lebensgefahr trifft sie die schon sehr schwache und verzweifelte Anne noch dreimal an einem Zaun, über den sie ihr Nahrungsmittel zuwirft. „Ich habe niemand mehr“, sagt Anne bei einem der letzten Begegnungen unter Tränen. „Diese Worte saßen wie ein Messerstich“, erinnerte sich Hannah Pick-Goslar. Kurz darauf stirbt Anne Frank.
Hannah und ihre 1940 geborene Schwester überleben die Nazis. Sie gründet eine Stiftung, um Zeugnis über ihre Zeit mit Anne Frank und ihr Leben abzulegen. Im Oktober 2022 stirbt Hannah Pick-Goslar im Alter von 93 Jahren in Jerusalem. Um sie trauern drei Kinder, elf Enkel und 31 Urenkel. „Das ist meine Antwort auf Hitler“, sagt sie einmal mit Blick auf ihre große Familie.