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Nahostkonflikt: Nichts als Hass im Nahen Osten? Wie eine Neusäßerin die Lage in Tel Aviv erlebt

Nahostkonflikt

Nichts als Hass im Nahen Osten? Wie eine Neusäßerin die Lage in Tel Aviv erlebt

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    Israelische Artilleriesoldaten feuern in den Gazastreifen nahe der südisraelischen Stadt Sderot.
    Israelische Artilleriesoldaten feuern in den Gazastreifen nahe der südisraelischen Stadt Sderot. Foto: JINI/XinHua, dpa

    Stunden, ja ganze Nächte im Keller, im Bunker oder in provisorischen Unterständen. Das Horchen auf die Sirenen, auf Einschläge, die näher kommen. Die Angst, drangvolle Enge. Fast jede deutsche Familie kennt diese Schilderungen der Eltern oder Großeltern aus dem Zweiten Weltkrieg. Für viele Israelis aber sind das keine Berichte aus einer fernen Zeit. Seit mehr als einer Woche fliegen die Raketen der Hamas und anderer radikaler Milizen aus Gaza in Richtung Israel. In Gaza wiederum suchen die Menschen Schutz vor den Vergeltungsangriffen der israelischen Luftwaffe.

    „Wir hatten gerade ein Bier in einer Bar in Tel Aviv bestellt, als die Sirenen losgingen“, erzählt Daniela Stemmer am Telefon. „Es war keine Zeit, einen Luftschutzkeller aufzusuchen. Also haben wir uns auf dem Boden zusammengekauert.“ Die 21-Jährige studiert Internationale Beziehungen an der Universität Herzliya, etwa zehn Kilometer nördlich von Tel Aviv. „Der Alarm hat 20 Minuten gedauert. Als Erstes habe ich meinen Eltern eine kurze Videobotschaft geschickt, dass mir nichts passiert ist.“

    Nahostkonflikt: Die Furcht vor Raketen schleicht sich in das Leben

    Diesen Angriff, sagt sie, habe sie noch ganz gut weggesteckt. Ganz anders sah es dann aus, als sie, zurück in Herzliya, in der Nacht in ihrer Wohnung von Sirenen aus dem Schlaf gerissen worden sei. „Das war schon schlimm. Ich habe mich total erschrocken. In den 60 Jahre alten Luftschutzkeller wollten wir nicht. Wir haben uns im Treppenhaus zwischen dem ersten und dem zweiten Stock niedergelassen. Da ist es relativ sicher.“ Nach einem weiteren Raketenalarm stellten sich bei Daniela Stemmer Schlafstörungen ein, Freunde und Bekannte leiden unter Angstattacken.

    „Das war schon schlimm“: Studentin Daniela Stemmer.
    „Das war schon schlimm“: Studentin Daniela Stemmer. Foto: Stemmer

    In Europa und den USA sorgen Bilder von Israelis, die inmitten eines militärischen Schlagabtausches in Haifa oder Tel Aviv scheinbar unbeeindruckt ihren Alltag leben, für Erstaunen. Junge Pärchen in den Cafés, Familien an den Stränden. Doch Daniela Stemmer weiß genau, welche Angst Freundinnen mit kleinen Kindern haben. Wie sich die Furcht vor Attentaten oder Raketen in das Leben schleicht.

    Tel Aviv und die Region um die Stadt herum sind in den vergangenen Jahren kaum Ziel von Raketenangriffen gewesen – anders als Ashkelon, Ashdod oder Sderot im Süden, die immer wieder massiv unter den Attacken aus Gaza litten. Das war auch bei dem letzten Konflikt 2014 so, als über 4000 Raketen auf Israel abgeschossen wurden.

    Viele Häuser und Wohnungen in Israel verfügen über besonders gesicherte Schutzräume mit verstärkten Betonmauern, Metallstreben, Fenstern aus Hochsicherheitsglas und Türen, die wie normale Zimmertüren aussehen, in Wirklichkeit aber aus schwerem Metall sind, um einer Druckwelle standzuhalten. Die Behörden empfehlen, sich binnen 90 Sekunden nach einem Alarm in einen Schutzraum zu begeben. Es gibt kaum einen Israeli, der nicht über eine auf dem Handy installierte App mit einem sirenenartigen Ton vor der Bedrohung aus der Luft gewarnt wird. Neben den Kellern in den Häusern gibt es ein Netz öffentlicher Bunker, die man über spezielle Internetseiten auch findet, wenn man sich in einer Stadt oder einem Viertel nicht auskennt.

    "Iron Dome" fängt die meisten Raketen ab, aber nicht alle

    Dennoch: Absoluten Schutz gibt es nicht. Zwar werden die weitaus meisten Raketen vom Abwehrsystem „Iron Dome“ (Eisenkuppel) abgefangen, aber eben nicht alle. Bisher kamen zwölf Menschen in Israel durch die Angriffe ums Leben. Weit schlimmer traf es die Palästinenser: Das Gesundheitsministerium in Gaza bezifferte die Zahl der Getöteten seit Beginn der Eskalation auf 212, darunter 61 Kinder.

    Stemmer hat sich schon vor einiger Zeit in das Land Israel „verliebt“. Die junge Frau aus Neusäß nahm 2016 an einem musischen Schüleraustausch über das Augsburger Maria-Ward-Gymnasium in Israel teil. Nach dem Abitur absolvierte sie 2019 in Jerusalem einen Freiwilligendienst mit der Aktion Sühnezeichen. Unter anderem betreute sie deutschsprachige Überlebende des Holocaust. Das Studium in Herzliya war da fast folgerichtig.

    Zu ihrem Freundeskreis und ihren Kommilitonen gehören neben Ausländern viele Juden, aber auch Palästinenser. So hat die junge Deutsche feine Antennen für die innenpolitischen Spannungen entwickelt. Dennoch war sie, wie die meisten Israelis, von der Heftigkeit der Ausschreitungen zwischen Arabern und Juden überrascht.

    Allerdings ärgert sie sich darüber, wenn Medien in Europa ein rabenschwarzes Bild vom Verhältnis der beiden Bevölkerungsgruppen zeichnen. Natürlich gebe es Konflikte, aber sie kenne auch viele andere Beispiele. „Es gab nach den Krawallen Aktionen jüdisch-arabischer Nachbarschaftsinitiativen, die gegen Gewalt und Ausgrenzung protestiert haben. Es gab Araber, die Juden vor dem Mob geschützt haben und umgekehrt“, sagt die Studentin.

    Akko, ganz im Norden Israels, ist ein gutes Beispiel dafür. Im historischen Zentrum der alten Hafenstadt haben Evan Fallenberg und sein Sohn Micha ein abbruchreifes, altes Gemäuer aus der osmanischen Zeit mit viel Liebe und noch mehr Arbeit in ein wahres Kleinod von Hotel verwandelt – bis in der vergangenen Woche ein arabischer Mob durch die Altstadt zog und eine Spur der Verwüstung in den Häusern der wenigen Juden hier hinterließ. Das nur ein paar Gassen entfernte Restaurant des Starkochs Uri Buri – ausgebrannt. Das „Arabesque“ der Fallenbergs – eine Trümmerlandschaft.

    Am Ende haben sie gemeinsam geweint

    Im Frühstücksraum, wo Micha sich gerne zu seinen Gästen an den Tisch gesetzt und über Land und Leute geplaudert hat, liegen die antiken Möbel kurz und klein geschlagen auf dem Boden, auch den 95 Jahre alten Flügel in der Ecke haben die Randalierer umgekippt und demoliert, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. „Es ist praktisch alles zerstört“, sagt Evan Fallenberg, der in den USA geboren wurde, seit 1985 in Israel lebt und nicht glaubt, dass die Polizei die Randalierer ausfindig machen wird. „Die Schäden sind enorm.“ Aufgeben aber wird er nicht. Das Hotel jetzt nicht wieder aufzubauen, findet er, würde nur all diejenigen bestätigen, die schon immer behaupten, Juden und Araber könnten nicht friedlich nebeneinander leben. „So denke ich nicht.“

    Die ersten Nachbarn, fast alles Araber, haben schon gefragt, wie sie helfen können. „Aber ich weiß nicht, ob ich mich hier jemals wieder so zu Hause fühlen kann wie vorher.“ Obwohl sie Juden seien, erinnert sich der 59-Jährige, seien sie in Akko von Anfang an willkommen gewesen. „Wir sind ein Teil der Stadt geworden.“ Umso erschütternder sind die Ereignisse der vergangenen Tage für ihn. „Die Wut und der Hass, die dafür nötig sind“, sagt ausgerechnet er, der im Hauptberuf Bücher schreibt und übersetzt, „sprengen meine Vorstellungskraft.“ Dabei hätten sie noch Glück gehabt. „Unser Haus wurde nicht angezündet.“ Etwa 300 Jahre ist es alt, Teile der Mauern stammen noch aus der Zeit der Kreuzritter im Mittelalter – eine jüdische Herberge in einer arabisch geprägten Stadt mit einer christlichen Vergangenheit. Mehr Israel geht eigentlich nicht.

    Ein paar Nachbarn haben sich bei Evan Fallenberg für das entschuldigt, was ihre Glaubensbrüder ihm angetan hätten. Am Ende haben sie gemeinsam geweint.

    Auch Ahmad Mansour machen die Bilder von Hass und Zerstörung aus seiner Heimat zu schaffen. Der muslimische Psychologe und Autor aus Berlin, der die israelische und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, hält die inner-israelischen Konflikte zwischen Juden und Arabern für gefährlicher für den Zusammenhalt der israelischen Gesellschaft als die militärische Auseinandersetzung mit der Hamas. Andererseits ist er sich sicher, dass die „Vernünftigen auf beiden Seiten“ aufstehen werden.

    Eine Mutter hält schützend ihr Kind im Arm, als die israelische Stadt Ashkelon von Raketen aus dem Gazastreifen beschossen wird.
    Eine Mutter hält schützend ihr Kind im Arm, als die israelische Stadt Ashkelon von Raketen aus dem Gazastreifen beschossen wird. Foto: Ilia Yefimovich, dpa

    Was die weniger Vernünftigen in der Stadt Lod, in Akko oder anderen Orten angerichtet haben, ist für Mansour eine „Explosion der Gewalt, die tiefe Wunden hinterlassen“ werde. „Das schmerzt besonders, da es zuletzt einige positive Entwicklungen gegeben hatte.“ Dazu zählt Mansour den Umstand, dass die arabische Raam-Partei als Koalitionspartner zur Bildung einer Regierung gehandelt wurde – eine Premiere. Oder, dass die Pandemie in Israel relativ schnell unter Kontrolle gebracht werden konnte – das sei der Erfolg eines Gesundheitssystems, in dem Juden und Araber Seite an Seite effektiv arbeiten würden.

    Wie geht es in dem militärischen Schlagabtausch weiter?

    Mansour, 1976 in Kfar Saba nahe Tel Aviv geboren, ist davon überzeugt, dass Kriminelle und Radikale einen großen Anteil an den Ausschreitungen haben: „Da gibt es auf der einen Seite kriminelle arabische Clans und religiöse Extremisten. Auf der anderen Seite jüdische Hooligans und fanatische Siedler-Aktivisten, die ganz gezielt in die Brennpunkte fuhren.“ Dennoch glaubt Mansour, dass sich das Zusammenleben von Arabern und Juden wieder normalisieren werde. „Ganz einfach, weil es dazu keine Alternative gibt. Man arbeitet zusammen, geht einkaufen, lebt weiter.“

    Doch wie geht es in dem militärischen Schlagabtausch zwischen der Hamas und Israel weiter? Diesmal waren es die Unruhen auf dem Tempelberg, die die Spannungen verschärft haben. Es folgte der bereits vierte Konflikt seit 2008 nach dem immer gleichen Muster: Raketenbeschuss aus Gaza, die israelische Luftwaffe antwortet mit Angriffen, um die Hamas zu schwächen. Nach einigen Tagen oder Wochen beginnen dann offene oder verdeckte Verhandlungen über eine Waffenruhe. Schließlich beruhigt sich die Lage. Eine solche Entwicklung deutet sich auch jetzt an. Zurück bleiben Tote und Trümmer auf beiden Seiten, aber auch die ungelösten Probleme, die Hass und Gewalt am Brodeln halten. Bis sich das traurige Spiel irgendwann wiederholt.

    Genau das fürchtet Ahmad Mansour: „Die Hamas wird auch diesmal nicht gewinnen. Israel wiederum wird die Hamas nicht vernichten können, es würde zu viele zivile Opfer in Gaza geben.“ So etwas nennt man gewöhnlich einen Teufelskreis.

    Arye Sharzu Shalicar kennt das schon. Eigentlich arbeitet er als Beamter für die Regierung – ein Bürojob, Abteilungsleiter für internationale Beziehungen. In der vergangenen Woche allerdings ist der 43-Jährige, in Göttingen geboren, in Berlin aufgewachsen und 2001 nach Israel ausgewandert, wieder in seine Uniform geschlüpft. Das israelische Militär hat tausende von Reservisten einberufen – und so arbeitet Shalicar, wie im letzten Krieg auch schon, als Presseoffizier für die Armee.

    Arye Sharzu Shalicar ist Presseoffizier bei der israelischen Armee.
    Arye Sharzu Shalicar ist Presseoffizier bei der israelischen Armee. Foto: Privat

    Michelle, seine sechsjährige Tochter, habe angefangen zu zittern, erzählt er am Telefon, als der erste Raketenalarm über dem Großraum Tel Aviv die Menschen in die Bunker und Schutzräume zwang. „Ich habe sie dann in den Arm genommen und ihr gesagt: Hab keine Angst, ich beschütze dich.“

    Eigentlich wollten die Israelis ihre neue Freiheit genießen

    Seitdem hat sich zwischen Vater und Tochter ein kleines Ritual entwickelt. Morgens, wenn er aus dem Haus geht, fragt Michelle, warum er denn noch immer anders angezogen sei als sonst – und Shalicar erklärt ihr dann, dass er die Uniform tragen werde, so lange er sie vor den Menschen beschützen müsse, die nicht wollten, dass sie hier lebten. Wann er die Militärkluft wieder ablegt, weil der Krieg zu Ende oder ein Waffenstillstand ausgehandelt ist? Unklar. Eines allerdings, fügt Shalicar dann noch hinzu, sei ihm wichtig: „Wir führen hier keinen Krieg gegen das palästinensische Volk. Wir verteidigen uns gegen eine palästinensische Terrororganisation.“ Nach dem Holocaust, den Jahrhunderten in der Diaspora und den vielen Kriegen mit seinen arabischen Feinden zähle für Israel vor allem eines: „Nie wieder Opfer sein.“

    Auch deshalb haben Shalicar und seine Landsleute mit den Jahren etwas entwickelt, was er das besondere Immunsystem Israels nennt. Sie hätten gelernt, mit der Gefahr zu leben, sich zu wehren – auch jetzt, da die Israelis eigentlich ihre neue Freiheit nach dem langen Lockdown genießen wollten und sich buchstäblich über Nacht in ihren Bunkern wiederfinden, gestresst, entnervt, müde. An die Stelle der Bilder von feiernden jungen Menschen sind Bilder von zerschossenen Häusern, brennenden Autos und trauernden Angehörigen getreten.

    „Natürlich haben auch wir Angst“, sagt Shalicar. „Aber wir können auch hart zurückschlagen.“

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