Frau Wetzel, Sie arbeiten seit vielen Jahren an der TU-Berlin als Antisemitismusforscherin und haben dabei auch den Bundestag beraten. Was bedeutet Antisemitismus und wo beginnt er?
Juliane Wetzel: Wir definieren Antisemitismus als Hass gegen Jüdinnen und Juden, der sich in vielerlei Formen äußern und sogar auch gegen Nichtjuden richten kann. Man hat beispielsweise während Corona erlebt, dass Microsoft-Gründer Bill Gates immer wieder als Jude bezeichnet wurde. Man bedient Vorurteile, wir sprechen in der Wissenschaft von Stereotypen: hier etwa eine Verbindung von Geld und Jüdisch. Diese Stereotype werden nicht nur auf Einzelpersonen, das jüdische Volk, sondern auch auf den Staat Israel angewendet. Hier geht es dann nicht um eine legitime Kritik an israelischer Politik, sondern oft um teils jahrhundertealte negative Vorurteile oder die Infragestellung des Existenzrechts des Staats Israel.
Die Klimaaktivistin Greta Thunberg hat bei ihren Solidaritätsbekundungen mit Gaza Aufrufe palästinensischer Organisationen unterstützt, die das Existenzrecht Israels klar infrage stellen.
Wetzel: Wenn man nach den Terrorangriffen vom 7. Oktober solche Aufrufe teilt, muss man sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen. Es geht nicht nur darum, ob jemand selbst wirklich antisemitische Überzeugungen hat, sondern auch, wie die eigenen Aussagen von anderen Menschen verstanden werden. Hier gibt es klare Grenzen. Wer das Existenzrecht Israels nicht nur infrage stellt, sondern den Staat auslöschen will, ist eindeutig antisemitisch. Gleiches gilt, wenn man den Eindruck erweckt, die Israelis würden den Palästinensern dasselbe antun, wie es die Nationalsozialisten den Juden angetan haben.
Die internationale Abteilung von Thunbergs „Fridays for Future“ hat Israel einen „Genozid“, also Völkermord, und ein „Apartheid-System“ wie einst in Südafrika vorgeworfen. Ist hier die Grenze zum Antisemitismus überschritten?
Wetzel: Wer versucht, israelische Politik mit dem Holocaust gleichzusetzen, überschreitet immer die Grenze zum Antisemitismus. Als Historikerin halte ich auch den Vergleich mit der Apartheid für unsäglich. Doch wer in der aktuellen Situation von Genozid spricht, würdigt auch die Opfer des Holocaust herab. Es geht hier weder um einen Genozid noch um Rache und Vergeltung. Es ist völlig nachvollziehbar, wenn Israel militärisch auf die Terror-Angriffe der Hamas reagiert. Problematisch ist, wenn auch in seriösen Medien von „Rache“ und „Vergeltung“ die Rede ist. Hier wird unterschwellig an das biblische Zitat „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ erinnert. Doch es ist ein klassisches Vorurteil, Rache mit dem Jüdischen zu verbinden. Auch 1945 haben die Juden keine „Rache“ für den Holocaust geübt. Heute geht es nicht um Rache, sondern um die Sicherheit und Verteidigung Israels.
Die allermeisten, die Israel hart kritisieren, weisen Antisemitismus weit von sich. Frau Thunberg sagte auf den Vorwurf, dass sie sich nur mit Palästinensern, aber nicht mit den israelischen Opfern solidarisch zeige, es sei selbstverständlich, dass sie den Hamas-Terror verurteile, das brauche sie nicht öffentlich auszusprechen ...
Wetzel: Das halte ich für einen großen Irrtum. Den entsetzlichen Terror klar zu benennen, gehört zur Grundlage der Debatte. Es wurde ein Massaker an weit über Tausend Israelis begangen, darunter an Hunderten junger Menschen auf dem Musikfestival in der Wüste. Ein grausames Abschlachten ganzer Familien in ihren Häusern. Die Entführung Hunderter Frauen und Kinder. Das muss uns in allererster Linie beschäftigen, bevor wir uns in reflexartigen Streit stürzen. Das heißt natürlich nicht, das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza auszublenden. Die palästinensische Bevölkerung in Gaza leidet massiv unter der Herrschaft der Hamas und wird von ihr rücksichtslos als Schutzschild missbraucht. Die aktuelle Eskalation hat nicht Israel, sondern die Hamas ausgelöst.
Woher kommt der teils offene Antisemitismus der Linken gegenüber Israel trotz aller Erfahrungen des Nationalsozialismus?
Wetzel: Es gehört zum Wesenskern der linken Bewegungen, sich auf die Seite von Menschen zu stellen, die sie für Opfer einer Unterdrückung halten. Ebenso gehört zur linken Ideologie der Antiimperialismus– die Ablehnung von Nationen und Mächten, die man für unterdrückerisch erachtet. Teile insbesondere der radikalen Linken halten das militärisch mächtige Israel in ihren Augen für einen imperialistischen Staat. Und zu dieser Grundhaltung mischen sich antisemitische Vorurteile. Man muss aber hier klar unterscheiden: Bei Rechtsextremisten gehört Antisemitismus zu den Grundlagen ihrer Ideologie, bei den Linken nicht. Aber er spielt dort eine Rolle.
Antisemitismus reicht – bewusst oder unbewusst – bis in die Mitte der Gesellschaft. Der Autor Richard David Precht musste nach Protesten von Studierenden seine Honorarprofessur aufgeben, nachdem er im ZDF antisemitische Vorurteile mit Falschaussagen über orthodoxe Juden bedient hatte. Er entschuldigte sich, dass er etwas Falsches „salopp so dahergeredet“ habe. Reicht das?
Wetzel: Ich habe großes Verständnis für die Studierenden der Universität in Lüneburg, wenn sie sagen, sie wollen mit so jemandem nicht mehr zusammenarbeiten. Einfach etwas so daherreden, kann er vielleicht privat am Stammtisch, aber nicht als eine Person des öffentlichen Lebens. Sowohl die nicht akzeptable Äußerung als auch die Art der Entschuldigung von Herrn Precht sprechen dafür, dass ihm die nötige Sensibilität für dieses Thema völlig fehlt.
Wie gefährlich ist der Antisemitismus in der Gesellschaft von links bis rechts und in muslimischen Bevölkerungsgruppen?
Wetzel: Zunächst muss man klar festhalten, nahezu 90 Prozent aller antisemitischen Übergriffe und Straftaten kommen aus dem rechtsextremen Lager. Das ist das Hauptproblem. Deshalb sollten wir die Debatte nicht allein auf pro-palästinensische Demonstrationen verengen. Aber wir dürfen dieses Problem auch nicht unterschätzen: Die Eskalation im Nahen Osten droht in Teilen der Bevölkerung mit palästinensischem beziehungsweise muslimischem Hintergrund Antisemitismus anzuheizen. Deshalb ist es sehr wichtig, gerade an Schulen und in Initiativen vor Ort aktiv gegen Antisemitismus mit Aufklärung anzugehen.
Sie selbst sind in Berlin in der „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ aktiv. Wie erfolgreich ist diese Arbeit?
Wetzel: Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus wurde unter anderem von Muslimen 2003 nach den Terroranschlägen auf die Synagogen von Istanbul gegründet. Aktuell haben wir allein in den zwei Wochen nach den Hamas-Terrorangriffen auf Israel rund 300 Lehrerinnen und Lehrer geschult, wie sie in ihren Klassen mit antisemitischen Äußerungen und Vorfällen umgehen können. Das zeigt, wie riesig die Nachfrage ist. Nicht nur von Schulen, sondern auch von Eltern, aber ebenso von betroffenen jüdischen Schülern und Schülerinnen. Wir sensibilisieren nicht nur vor allem Jugendliche, sondern auch Medienmacher für das Thema. Ohne die Arbeit vieler solcher Initiativen in Deutschland wäre das Problem Antisemitismus sicher größer. Leider müssen all diese Initiativen jedes Jahr bei der Politik um Geld kämpfen.
Zur Person: Die Historikerin Juliane Wetzel arbeitet seit 1991 am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und war Co-Koordinatorin der Expertenkreise Antisemitismus des Bundestags.