Der Zorn ist zurück. Vielleicht war er in Wahrheit in Tel Aviv auch seit Jahresbeginn nie wirklich verschwunden. In der Nacht auf Donnerstag entlud sich die Wut vieler Israelis auf die rechtsreligiöse Regierung unter Netanjahu erneut auf den Straßen Tel Avivs und in anderen Landesteilen. Am Abend zogen wieder hunderte mit weiß-blauen Nationalflaggen über die Kaplanstraße in Richtung des Ayalon-Highways. „Schande! Schande!“, rief die Menge. Und: „Ben-Gvir – Terrorist!“ Einige hielten Pappschilder mit Slogans gegen Benjamin Netanjahu und die Minister seiner Regierung hoch. Besonders Itamar Ben-Gvir, dem Minister für nationale Sicherheit von der rechtsextremen Partei Otzma Jehudit, galt der Ärger der Demonstrierenden. Der politische Hardliner hatte in den vergangenen Monaten immer mehr Befugnisse in der Polizei gefordert. Nicht nur die Demonstrierenden sehen dadurch die Unabhängigkeit der Polizei gefährdet.
Auslöser der spontanen Proteste war der Rücktritt des beliebten Polizeibezirkschefs von Tel Aviv. Ami Eshed hatte sich in den letzten Monaten immer wieder den Anweisungen Ben-Gvirs widersetzt, gegen die Protestierenden mit Härte vorzugehen. Er erklärte bei einer Pressekonferenz, den Erwartungen des Polizeiministers nicht nachkommen zu können. „Ich hätte leicht unverhältnismäßige Gewalt anwenden können“, sagte Eshed. „Allerdings um den schrecklichen Preis, dass wir Köpfe einschlagen und Knochen brechen würden. Als Verantwortlicher habe ich Generationen von Polizisten beigebracht, die Grenzen der Gewalt zu erkennen und unseren Vertrag mit der Öffentlichkeit zu schützen.“ Ruhe und Ordnung seien nicht das gewünschte Ziel gewesen, sondern das Gegenteil, fügte er hinzu. Ben-Gvir und der Chef der israelischen Polizei, Kobi Schabtai, planten, Eshed zu versetzen, was dieser ablehnte. Ben-Gvir wünschte dem Polizeibezirkschef zum Abschied „großen Erfolg als Kandidat einer linken Partei bei den nächsten Wahlen“. Oppositionsführer Jair Lapid entgegnete, Eshed habe in drei Jahrzehnten unter verschiedenen Regierungen nie politisch Partei ergriffen, und lobte den Polizeibezirkschef für seine Professionalität und seinen Einsatz.
Liberale Israelis kritisieren die Reformen der Regierung
Auf dem Ayalon-Highway setzten in der Nacht Jugendliche Holzpaletten in Brand und schleppten Metallgitter auf die Straße. Fast tausend Menschen blockierten zeitweise beide Fahrtrichtungen. Feuerwerkskörper erhellten die Nacht. Wasserwerfer versuchten, die Protestierenden von der Hauptverkehrsader zu vertreiben. Vor einer Reiterstaffel kniete eine Frau im roten Kleid mit einer über das Gesicht gezogenen weißen Haube. An ihrem Handgelenk baumelte ein Strick. Schon seit Beginn der Proteste gegen die angestrebte Justizreform der Regierung protestieren hunderte als "Handmaid's Tale"-Dienstmägde verkleidete Israelinnen vor allem in den Metropolen Tel Aviv und Haifa. Sie beziehen sich auf den Roman „Der Report der Magd“ der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood, in dem Frauen in einer Militärdiktatur ohne Rechte gefangen sind und allein ihren Männern verfügbar sein sollen.
Durch die höchst umstrittene Justizreform strebe Israel in eine ähnliche Richtung, fürchten vor allem liberale und säkulare Israelis. Erst am Dienstag hatte der Justizausschuss der Knesset zum Vorantreiben der Reform einen Gesetzesentwurf zur ersten Lesung ins Parlamentsplenum weitergeleitet.
Kämpfe gegen Palästinenser im Westjordanland
Neben der umstrittenen Justizreform beschäftigen Israel derzeit noch weitere Konfliktherde. Erst in der Nacht zu Mittwoch beendete Israels Militär seinen größten Einsatz im Westjordanland seit 20 Jahren. Nach Luftangriffen waren in der Nacht zu Montag rund tausend Soldaten in die Stadt Dschenin eingerückt, um dort "terroristische Infrastruktur" zu zerschlagen. Bei dem Einsatz wurden unter anderem Kommandozentralen und Waffenlager militanter Palästinenser zerstört. Aber auch Straßen, Autos, Strom- und Wasserleitungen wurden beschädigt. Dschenin gilt als Keimzelle militanter Palästinenser, von wo aus mehrere Terroranschläge geplant wurden. Am Dienstag fuhr ein palästinensischer Attentäter mit seinem Auto in eine Menschenmenge in Tel Aviv, stach danach auf Passanten mit einem Messer ein und verletzte acht von ihnen teils schwer. Eine schwangere Frau verlor durch den Anschlag ihr Kind. Die im Gazastreifen herrschende Hamas sprach von einer "Reaktion" auf die Geschehnisse in Dschenin. Die Hoffnung auf mehr Frieden scheint so fern wie selten zuvor.
Als die Reiterstaffeln und Wasserwerfer in den frühen Morgenstunden die Demonstrierenden vertrieben und den Ayalon-Highway geräumt hatten, kehrte nur kurz Stille ein. Am Samstag werden in Tel Aviv und anderen Städten neue Massendemonstrationen erwartet. Ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht.