Das eine tun, ohne das andere zu lassen: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu fährt im Kampf gegen die Terrororganisation Hamas zweigleisig. In dieser Woche verhandelt eine israelische Delegation in Katar über eine Waffenruhe und die Freilassung weiterer Geiseln. Gleichzeitig bereitet die Armee eine Offensive auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens vor, die als letzte Hochburg der Hamas gilt. Sollte es zunächst zu einer Feuerpause kommen, sagt Netanjahu, werde sich der Einsatz etwas verzögern. Ein "umfassender Sieg" sei allerdings in Reichweite. "Nicht in Monaten, sondern in Wochen, sobald wir mit der Operation beginnen."
Seit Kriegsbeginn hat das isrealische Militär erst drei Geiseln befreit
Nach Einschätzung des Terrorexperten Peter Neumann vom renommierten King's College in London kommt Israel im Gazastreifen allerdings nicht so gut voran, wie es nach außen scheinen soll. Nahezu täglich gebe es noch Raketenangriffe aus Gaza auf den Süden Israels, sagt er, und auch das weit verzweigte Tunnelsystem der Hamas sei bisher erst zu einem kleinen Teil zerstört. Neumann sieht Israel in einer Zwickmühle: Auf der einen Seite wolle es die Hamas komplett zerstören – auf der anderen Seite brauche es sie für weitere Geisel-Deals. "Ein Deal aber setzt voraus, dass die Hamas weiter existieren kann." Bisher seien lediglich drei Geiseln durch das israelische Militär befreit worden. Mehr als 100 kamen im November auf dem Verhandlungsweg frei, im Austausch gegen 240 in Israel inhaftierte Palästinenser.
Die Frage, ob ein rein militärischer Sieg über die Hamas überhaupt möglich ist, beantwortet Neumann skeptisch: "Nur schwer", sagt er. "Die Hamas ist ein zerstörerisches System, das allerdings nur schwer zu zerstören ist." Das liege nicht nur an ihren gut ausgebauten Strukturen, sondern auch an der breiten Unterstützung, die sie vom Iran über die Hisbollah im Libanon bis hin zu den Muslimbrüdern in Ägypten in der Region genieße. Auch den nächsten Schritt, einen Frieden zwischen Israel und der Hamas, kann der 49-Jährige sich nicht wirklich vorstellen. Das liege nicht nur daran, dass wichtige Unterstützer der Islamisten wie das iranische Mullah-Regime gar kein Interesse an einem solchen Frieden hätten. Auch die palästinensische Bevölkerung selbst heiße Gewalt gegen Israel mehrheitlich gut.
Eine Sicherung des Friedens durch die Vereinten Nationen hält Neumann für unrealistisch
Für eine Tagung des Zentralrats der Juden in Deutschland in der vergangenen Woche in Frankfurt am Main hat Neumann drei mögliche Szenarien entworfen, wie sich der Konflikt zwischen Israel und der Hamas entwickeln könnte.
Szenario 1: der eingefrorene Konflikt. Nach einem neuerlichen Geiselabkommen wird aus einem vorübergehenden Waffenstillstand ein dauerhafter. Die Hamas wäre zwar geschwächt, aber nicht zerstört.
Szenario 2: ein Konflikt ohne Ende. Israel führt seine Militäroffensive im Gazastreifen fort und hofft, dass irgendwann die Unterstützung der Hamas durch den Iran bröckelt oder die Bevölkerung im Gazastreifen sich von ihr abwendet.
Szenario 3: ein neuer Anfang. Arabische Staaten wie Katar nehmen viel Geld in die Hand, um Gaza wiederaufzubauen und eine neue palästinensische Führung ohne die Hamas zu etablieren. Am Ende dieses Prozesses könnte dann eine Zwei-Staaten-Lösung stehen.
Sein drittes Szenario sei "die Utopie", sagt Neumann. Ein viertes Szenario, in dem wie Anfang der Neunzigerjahre auf dem Balkan Soldaten der Vereinten Nationen einen fragilen Frieden sichern, hält er für wenig realistisch. "Der Unterschied zwischen Gaza und dem Balkan ist ja, dass die Mission dort mit Zustimmung aller Kriegsparteien etabliert wurde." Was von der Hamas nach dem Krieg übrig wäre, würde sich vermutlich schnell als Kämpfer gegen ausländische Besatzung inszenieren, fürchtet Neumann. "Und das Vertrauen der Israelis in die Vereinten Nationen ist gleich null."
30 Geiseln sollen bereits tot sein
Bei einem Treffen in Paris haben sich Unterhändler aus Israel, den USA, Ägypten und dem Hamas-Unterstützer Katar in der vergangenen Woche nach amerikanischen Angaben bereits auf die Grundzüge eines Geiselabkommens verständigt. Diese Gespräche werden nun in Katar fortgesetzt – mit dem Ziel, noch vor Beginn des muslimischen Fastenmonates Ramadan am 10. März eine Übereinkunft zu erzielen. Israelische Medien berichten unter Berufung auf Regierungskreise, die Waffenruhe solle etwa sechs Wochen dauern. In einer ersten Phase könnten dabei 35 bis 40 Geiseln freigelassen werden, vor allem Frauen, Kinder, Kranke und Verletzte. Israel würde im Gegenzug 300 Palästinenser aus seinen Gefängnissen entlassen. Nach israelischen Angaben befinden sich noch mehr als 130 Geiseln in den Händen der Hamas, etwa 30 von ihnen sollen bereits tot sein.