Irgendwo zwischen den Trümmern des Schlachtfelds, das einmal das Shejaiya-Viertel von Gaza-Stadt gewesen war, tauchten sie plötzlich auf: drei junge Männer, die Oberkörper nackt, die Hände erhoben, einer ein weißes Stück Stoff schwenkend. Ein israelischer Soldat soll die drei trotzdem für eine Bedrohung gehalten haben. Was in den Sekunden danach geschah, quält seitdem die israelische Gesellschaft: „Terroristen“, brüllte der Soldat, zielte und schoss. Erst später bemerkten die Truppen ihren furchtbaren Fehler: Sie hatten drei israelische Männer getötet, zwei Juden, einen muslimischen Beduinen. Drei der Geiseln, deren Befreiung eines der Ziele ist, wofür die Soldaten in diesen Krieg gezogen sind.
Armeechef Herzi Halevi übernahm am Samstag die Verantwortung für den Fehler und versuchte zugleich, ihn zu erklären: Seine Soldaten hätten zuvor immer wieder „Terroristen in ziviler Kleidung konfrontiert“, die versuchten hatten, die Truppen zu täuschen. Israelische Medien hatten kurz zuvor berichtet, die Hamas nutze Babypuppen und Aufnahmen von Kinderstimmen, um Soldaten in Hinterhalte zu locken. Kritiker sehen den Vorfall dennoch als weiteren Beleg dafür, dass die Armee, die IDF, zu wenig Rücksicht auf Unschuldige nehme. Zugleich befeuert der Fehler auch innerhalb des Landes die Debatte um den Fortgang der Kämpfe.
Israels Regierung will ihren Kurs beibehalten
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu äußerte Bedauern und wiederholte zugleich sein bekanntes Argument: Nur eine Fortführung des Krieges, nur militärischer Druck könnte zur Freilassung der verbliebenen Geiseln führen. Wie lange er und seine Regierung bei dieser Linie bleiben können, steht jedoch zunehmend in Zweifel.
Schon seit Wochen fordert die US-Regierung, Israels wichtigster Verbündeter, die Intensität der Kämpfe im Gazastreifen zu reduzieren und mehr für den Schutz der Zivilisten zu tun. Dazu gerät Israels Regierung zunehmend von einer zweiten Seite unter Druck: von innen. Die Familien der Entführten, die sich schon früh nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober organisiert haben, drängen die Regierung seit Wochen dazu, der Befreiung der verbliebenen rund 120 Geiseln höhere Priorität einzuräumen – und sich in Verhandlungen mit der Hamas offen für eine neuerliche Feuerpause zu zeigen.
Der Vorfall wird den Krieg nicht beenden
Die fatalen Schüsse am Freitag verleihen ihrer Kampagne eine neue Dringlichkeit. „Mit jedem Tag, der vergeht, schrumpft die Liste der Geiseln“, rief Danielle Aloni, die selbst während der Feuerpause Ende November aus Gaza befreit wurde, auf einer Demonstration der Geiselfamilien in Tel Aviv.
Diese Demonstrationen finden jeden Samstagabend statt, ebenso wie die Massenproteste gegen die geplante Justizreform der Regierung in den Monaten vor dem Terrorangriff. Weder Anlass noch Teilnehmerzahlen lassen sich zwar miteinander vergleichen, dennoch liegt in dem Anliegen der Familien genügend emotionale Spannung, um die erste große politische Kontroverse seit Kriegsbeginn zu begründen.
„Der Vorfall könnte die öffentliche Unterstützung für den Krieg schwächen“, sagte der Kriegshistoriker Danny Orbach von der Hebräischen Universität in Jerusalem unserer Redaktion. Zwar glaubt er nicht, dass der Tod der drei Geiseln und der Schock, den dieser ausgelöst hat, genug Wirkung entfalten könnten, um die Regierung zum Einstellen der Kämpfe zu bewegen. Den Krieg zu beenden, ohne die selbstgesetzten Ziele zu erreichen – die Zerstörung der Hamas in Gaza und die Befreiung der übrigen Geiseln –, würde die Regierung politisch nicht überleben, meint er. „Aber wenn es weitere solche Vorfälle gibt – wer weiß.“
Hören Sie dazu auch unseren Podcast "Augsburger Allgemeine Live" vom 30. Oktober 2023 mit den Nahost-Experten unserer Redaktion.