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Krieg in Nahost: "Dieser Krieg ist außer Kontrolle geraten"

Krieg in Nahost

"Dieser Krieg ist außer Kontrolle geraten"

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    Israelische Soldaten marschieren während einer Bodenoffensive durch den Ort Chan Junis.
    Israelische Soldaten marschieren während einer Bodenoffensive durch den Ort Chan Junis. Foto: Gil Cohen Magen, dpa

    Allein die Zahlen zeugen von einem Grauen, das sich ereignet haben muss: Mehr als hundert Menschen sind gestorben, Hunderte wurden verletzt. Geschehen ist das Drama im Gazastreifen, ausgerechnet als ein Hilfskonvoi die ohnehin verzweifelte Bevölkerung erreicht hat. In der Morgendämmerung rollten am Donnerstag 38 Laster über den Grenzübergang Kerem Schalom, beladen mit Lebensmitteln und Trinkwasser. Ziel war der Norden des Gazastreifens. Was danach geschah, darüber gehen die Schilderungen auseinander. Die israelische Armee beteuert, dass es Gedränge und Chaos gegeben habe und viele Menschen schließlich sogar von den Lkws überrollt worden seien. Die Soldaten hätten sich bedroht gefühlt und deshalb Warnschüsse in die Luft oder auf die Beine von Angreifern abgegeben. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde wirft den israelischen Truppen hingegen vor, direkt in die Menge geschossen zu haben. Die Stimmung ist angespannt – auch Israels Verbündete erhöhen ihren Druck und fordern Aufklärung.

    Der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, erklärt: „Wir werden diese Untersuchung genau verfolgen und auf Antworten drängen.“ Man habe keine gesicherten Erkenntnisse über die Geschehnisse. Deutlichere Worte wählte der französische Präsident Emmanuel Macron: Er zeigte sich auf der Plattform X (vormals Twitter) empört über die Bilder, „die uns aus Gaza erreichen, wo Zivilisten von israelischen Soldaten ins Visier genommen wurden“. Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari wies die Vorwürfe zurück: „Es gab keinen Angriff des israelischen Militärs auf den Hilfskonvoi.“ 

    Waffenstillstand rückt wohl in weite Ferne

    Kann der Vorfall um die Hilfslieferung zum Wendepunkt in diesem Krieg werden? „Von einem Wendepunkt würde ich noch nicht sprechen, das wird man erst sehen, aber es war ein einschneidendes Ereignis“, sagt Stephan Stetter, Nahost-Experte an der Universität der Bundeswehr in München. „Denn es zeigt auf, dass dieser Krieg außer Kontrolle geraten ist.“ Seine Befürchtung: Ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas, der in den vergangenen Wochen unter intensivem politischen Einsatz verhandelt worden ist, rückt durch den Tod der Menschen in weitere Ferne. US-Präsident Joe Biden hatte zuletzt die Hoffnung geäußert, dass schon ab kommenden Montag die Waffen schweigen könnten. „Dabei hätte ein Waffenstillstand sowohl die humanitäre Lage verbessern, als auch die Freilassung der israelischen Geiseln voranbringen können“, sagt Stetter. „Das dürfte erst einmal blockiert sein. Eine Lösung liegt ferner denn je, dieser Krieg ist unfassbar verfahren.“ 

    Die israelische Regierung um Benjamin Netanjahu lehnt eine Zwei-Staaten-Lösung ab.
    Die israelische Regierung um Benjamin Netanjahu lehnt eine Zwei-Staaten-Lösung ab. Foto: Abir Sultan, dpa

    Einer der größten Knackpunkte ist die Frage, welchen politischen Weg der Nahe Osten nach dem Krieg einschlagen wird. Die israelische Regierung um Benjamin Netanjahu lehnt eine Zwei-Staaten-Lösung ab, die wird von großen Teilen der internationalen Gemeinschaft aber als einziger Weg überhaupt aus diesem seit Jahrzehnten brodelnden Konflikt gesehen. „Viele Regierungen sowohl im Westen als auch in der arabischen Welt sorgen sich noch nicht einmal so sehr wegen des aktuellen Krieges, sondern viel mehr noch, dass es überhaupt keine Bereitschaft gibt, eine politische Lösung für den Gazastreifen und die Palästinafrage zu finden“, sagt Stephan Stetter. „Die palästinensische Seite ist ungeeint und ohne Strategie. Die israelische Regierung verweigert sich aus innenpolitischen Gründen.“ Daran kann offenbar nicht einmal die US-Regierung als Israels engster Verbündeter etwas ändern. 

    Bei Hilfslieferungen kommt es immer wieder zu Tumulten

    Washington zögere, zu seinen schärfsten Mitteln zu greifen: Noch unterstützt Biden Israel finanziell und militärisch, aber auch politisch, indem sich die USA im Weltsicherheitsrat auf die Seite der Israelis stellen. „Die USA können mit ihrem Veto Resolutionen des Weltsicherheitsrates verhindern“, erklärt Stetter. Doch öffentliche Kritik an Netanjahu lassen die Vereinigten Staaten durchaus erkennen – erst recht vor dem Hintergrund von humanitären Tragödien, wie sie am Donnerstag geschehen sind. Aber auch vor dem Hintergrund des beginnenden amerikanischen Wahlkampfes: In der demokratischen Wählerschaft ist der große Rückhalt für Israel durchaus umstritten. Und das weltweite Unbehagen wächst, je angespannter die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist.

    Immer wieder kommt es bei den Hilfslieferungen zu Tumulten und Verteilungskämpfen. Bewaffnete Plünderer mischen sich unter die Verzweifelten. Die Hilfslieferungen sind für viele Menschen die einzige Lebensader, um noch an Lebensmittelvorräte, aber auch an Trinkwasser zu gelangen. „Die Gefahr des Hungertods in Gaza nimmt zu, wobei Kinder und schwangere Frauen am stärksten betroffen sind“, warnt das UN-Nothilfebüro OCHA. Das Leben schwinde in erschreckender Geschwindigkeit, die Zahl der Toten im Gazastreifen habe die Schwelle von 30.000 Menschen überschritten. Patienten in Krankenhäusern und Menschen auf der Straße bettelten um ein Glas Wasser oder ein Stück Brot, berichtete die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Umso wichtiger sei es, dass Hilfslieferungen ungehinderten Zugang hätten. 

    Nur noch zwölf Krankenhäuser sind in Betrieb

    Die jordanische Luftwaffe ist am Freitag dazu übergegangen, Hilfsgüter aus der Luft über dem Gazastreifen abzuwerfen. Drei Flugzeuge warfen Fallschirme mit Lebensmittelpaketen an verschiedenen Orten im nördlichen Teil des Küstenstreifens ab. 

    Schon vor dem Krieg mussten Nahrung, Wasser, Treibstoff und vieles andere aus Israel gebracht werden. Es waren 500 Lastwagen am Tag. Heute kommen nach Angaben des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA im Durchschnitt nur knapp 100 Lastwagen pro Tag in den Gazastreifen. Von einst 36 Krankenhäusern sind nur noch zwölf teilweise im Notbetrieb. Operiert wird teils bei Kerzenlicht auf dem Fußboden, Verletzte durchleben einen Horror, weil Schmerzmittel und Anästhesiemittel fehlen. Chronisch kranke Patienten werden kaum noch versorgt, weil Medikamente oder Strom zum Betreiben von Dialysegeräten fehlen. Bei Leuten, die mit Solarpanels Strom erzeugen können, stehen Menschen Schlange, um Handys aufzuladen. (mit dpa)

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