Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Nahostkonflikt: Mindestens 600 Tote: Terrorschlag der Hamas trifft Israel ins Mark

Nahostkonflikt

Mindestens 600 Tote: Terrorschlag der Hamas trifft Israel ins Mark

    • |
    Raketen werden von militanten Palästinensern aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert.
    Raketen werden von militanten Palästinensern aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Foto: Hatem Moussa, AP/dpa

    An einem sonnigen Vormittag im April 2016 steht Ofir Lipstein in seinem Kibbuz und zeigt hinüber nach Gaza. "Es kann jede Minute losgehen", sagt er damals im Gespräch mit unserer Redaktion. "Schon heute Nacht." 200 Familien leben in Kfar Aza, direkt am Gaza-Streifen gelegen, von dem aus die islamistische Terrororganisation Hamas regelmäßig ihre Raketen auf Israel abfeuert. Den Menschen auf der israelischen Seite bleiben dann 15 Sekunden, um sich in die Bunker und Schutzräume zu flüchten. "Wenn da drüben jemand auf einen Knopf drückt", sagt Lipstein, "dann bricht bei uns die Hölle los."

    An diesem Samstag ist die Hölle ausgebrochen – und Ofir Lipstein, Vater von vier Söhnen und der Bezirksbürgermeister dieser stark landwirtschaftlich geprägten Region, ist eines der ersten Opfer einer bislang beispiellosen Attacke der Hamas. Er wird erschossen, als er am frühen Morgen versucht, sein Dorf gegen einen Angriff der Islamisten zu verteidigen, die Israel diesmal nicht nur aus der Luft bombardieren, sondern auch Dutzende von Terrorkommandos über die Grenze in den verhassten Judenstaat geschickt haben. Auch am Sonntagnachmittag wird in einer Handvoll Ortschaften noch gekämpft. 

    "Es befinden sich nach wie vor schwer bewaffnete Terroristen auf israelischem Boden", betont Armeesprecher Arye Sharuz Shalicar im Gespräch mit unserer Redaktion, und da der 60 Kilometer lange Grenzzaun an zahlreichen Stellen heruntergerissen und durchbrochen worden sei, könne er auch nicht ausschließen, dass aus Gaza immer noch Kämpfer nach Israel eindringen. "Mit dem Motorrad sind die in wenigen Sekunden hier." Umso mehr komme es nun darauf an, sagt er, diese Stellen möglichst rasch und gut wieder abzuriegeln. Die Raketen der Hamas aber fliegen auch am Sonntag noch nach Israel. 

    Insgesamt sollen nach bislang noch unbestätigten Berichten seit Samstag mindestens 600 Israelis ums Leben gekommen sein. Dazu kommen rund 2000 Verletzte. Auf palästinensischer Seite soll es nach Angaben aus Gaza ebenfalls knapp 400 Tote und knapp 2000 Verletzte gegeben haben. Auch in Kfar Aza, der Heimat von Ofir Lipstein, fallen am Sonntag noch Schüsse. Ein knappes Dutzend Islamisten hat sich hier nach israelischen Medienberichten verschanzt. 

    Ministerpräsident Netanjahu: "Bürger Israels, wir sind im Krieg."

    "Bürger Israels", sagt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nach der Sitzung seines Sicherheitskabinetts am Samstag, "wir sind im Krieg." Und fügt hinzu: "Wir werden gewinnen." Aus Sorge, von einer Allianz der Islamisten in die Zange genommen zu werden, schickt die israelische Armee wenig später auch zusätzliche Einheiten in den Norden des Landes. Dort sitzt jenseits der Grenze zum Libanon die Hisbollah, deren Raketenarsenale noch um einiges voller sind als die der Hamas. Beide Islamistengruppen eint der Hass auf alles Jüdische und das enge Verhältnis zum Mullah-Regime im Iran. 

    Am Sonntagmorgen fliegen dann, wenig überraschend, auch vom Libanon aus die ersten Raketen nach Israel. Jetzt spricht Netanjahu nicht mehr nur von "Krieg", sondern von einem "langen und schweren Krieg", in dem Israel sich befinde. Das Gebiet an der Grenze zum Gaza-Streifen hat die Armee da bereits zum Sperrgebiet erklärt und mit der Evakuierung von mehreren Tausend Israelis begonnen. Deutet das auf eine Bodenoffensive hin, den Einmarsch nach Gaza? Zu operativen Fragen könne er nichts sagen, wehrt Armeesprecher Shalicar ab. "Aber es liegen viele Optionen auf dem Tisch." 2005 hat Israel alle Israelis aus dem Gazastreifen abgezogen – in der Hoffnung, Land gegen Frieden zu tauschen. Bekommen hat es nur Krieg. 

    Israelis begutachten Schäden, die durch den Raketenangriff aus dem Gazastreifen entstanden sind.
    Israelis begutachten Schäden, die durch den Raketenangriff aus dem Gazastreifen entstanden sind. Foto: Ilia Yefimovich, dpa

    Angriffe der Hamas sind für die Menschen im Süden und im Südwesten Israels seitdem trauriger Alltag. Meist allerdings richten sie keine größeren Schäden an, weil die israelische Luftabwehr mit ihrem legendären Schutzschild "Iron Dome" die Raketen zuverlässig abfängt. Diesmal allerdings feuert die Hamas Tausende von Geschossen binnen weniger Stunden in Richtung Israel ab – zu viel für die eiserne Kuppel. Gleichzeitig dringen Hunderte von Islamisten nach Israel ein, teils mit Fahrzeugen, teils offenbar auch mithilfe von Gleitschirmen aus der Luft. Insgesamt durchbrechen sie die Grenzanlagen an 29 Punkten. Die Hamas habe beschlossen, prahlt einer ihrer Anführer, Mohammed Deif, den israelischen Verbrechen ein Ende zu setzen, was immer das heißen soll.

    Mit einer Attacke dieser Dimension hat die israelische Regierung nicht gerechnet

    Aufnahmen in den sozialen Medien zeigen, wie einige Terroristen in Israel von einem Pick-up-Fahrzeug aus wahllos um sich feuern. Andere zeigen eine junge Frau, eine Jüdin offenbar, die reglos auf der Ladefläche eines Autos wie eine Trophäe durch Gaza-Stadt gefahren wird, bis auf die Unterwäsche entkleidet und von triumphierenden Hamas-Aktivisten umringt, von denen einer auch noch auf sie spuckt. Angeblich hatte die Frau auch einen deutschen Pass, eine Bestätigung dafür aber gibt es bis Redaktionsschluss nicht. In der Kleinstadt Sderot, in der viele aus Russland ausgewanderte Juden leben, haben sich Hamas-Leute in einer Polizeistation verschanzt, die von den israelischen Einsatzkräften aber zurückerobert wird. Zehn Angreifer seien dabei "neutralisiert" worden, heißt es später. Mehrere weitere Islamisten sterben, als sie versuchen, vom Mittelmeer aus nach Israel einzudringen.

    Mit einer Attacke dieser Dimension hat die israelische Regierung offenbar nicht gerechnet, schon gar nicht in einer Woche wie dieser mit mehreren Feiertagen und dem 50. Jahrestag des Yom-Kippur-Krieges, bei dem Israel sich schwerer Angriffe einer Allianz aus arabischen Staaten erwehren musste. Oder hat die Hamas gezielt diesen Termin gewählt, weil sie Israel mit sich selbst beschäftigt wähnte? Jedenfalls schalten Netanjahu und seine Minister anschließend umso schneller in den Krisenmodus, holen Tausende von Reservisten an die Waffen und bitten Ärzte und Krankenschwestern, die gerade Urlaub haben, das Land nicht zu verlassen und sich bereit zu halten. 

    Hamas haben Israelis als Geiseln genommen und nach Gaza entführt

    Berichte, nach denen die Hamas Israelis als Geiseln genommen und nach Gaza entführt hat, hat das israelische Militär inzwischen bestätigt. Wen und wie viele, bleibt unklar. Erste Schätzungen gehen von mindestens 100 Entführten aus. In Gaza greift die israelische Luftwaffe mit Dutzenden von Flugzeugen Militärstützpunkte und Quartiere der Hamas an, alles in allem mehr als 400 Ziele. Israels Militär, kündigt Premier Netanjahu an, werde in einem Ausmaß zurückschlagen, "das der Feind noch nicht erlebt hat."

    Ofir Lipstein, einer der ersten Toten dieses traurigen Tages, hatte eine andere Vorstellung von Nachbarschaft als die Hamas. Auf ein Windrad in seinem Kibbuz hatte er einst so groß "Shalom" geschrieben, das Hebräische Wort für Frieden, dass es auch von Gaza aus noch zu sehen war, er hat Konzerte mit israelischen und arabischen Musikern organisiert und damals, im April 2016, auf Gaza zeigend noch voller Hoffnung gesagt: "Auch dort gibt es Leute, deren Kinder in Frieden aufwachsen sollen." Diese Hoffnung ist am Samstag mit ihm gestorben.

    Alle Nachrichten zum Verlauf der Ereignisse in Israel können Sie in unserem Live-Ticker nachlesen.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden