„Ein paar harte Tage“ würden dem Nahen Osten bevorstehen, schätzt die US-Regierung. Das zumindest schreibt die Nachrichten-Seite Axios. Es könnte die Untertreibung des Jahrzehnts sein. Nach dem Tod des Hamas-Chefs Ismail Hanijeh in Teheran holen der Iran und seine Verbündeten in der Region zum Gegenschlag aus. Sollte sich die Eskalation nicht einbremsen lassen, droht im Nahen Osten ein Krieg von katastrophalen Ausmaßen.
„Die Eskalationsspirale dreht sich bereits und ist nur schwer zu stoppen“, sagt Abdolrasool Divsallar, externer Experte des Nahost-Instituts in Washington, unserer Redaktion. Beim zu erwartenden Vergeltungsschlag des Iran werden nach seiner Einschätzung auch Hilfstruppen wie die Huthis im Jemen und die Hisbollah im Libanon mitmischen, anders als noch beim ersten iranischen Raketenbeschuss auf den jüdischen Staat im April. Der war vergleichsweise harmlos ausgegangen. Die US-Regierung versucht, den Partner Israel dazu zu bewegen, selbst zurückhaltend zu reagieren. Doch sollte der Versuch scheitern, könnte ein Krieg ausbrechen, der Länder von der Türkei bis zum Jemen und von Ägypten bis Afghanistan erfassen würde. Auch das EU-Mitglied Zypern wäre in Gefahr. Großbritannien fliegt von Stützpunkten auf der Insel aus regelmäßig Angriffe auf die Huthis im Jemen. Die Hisbollah hat bereits mit einem Beschuss von Zypern gedroht. Auch die Huthis könnten die Insel mit ihren Drohnen erreichen.
Hisbollah könnte Abwehr Israels überfordern
In einer ersten Phase des Krieges würde Israel versuchen, Raketen und Drohnen des Iran, der Hisbollah, der Huthis und anderer pro-iranischer Gruppen im Irak abzuwehren. Der jüdische Staat hat effektive Flugabwehrsysteme, die jedoch von einem gleichzeitigen Angriff von tausenden Geschossen überfordert werden könnten. Städte wie Tel Aviv und Haifa wären wahrscheinliche Ziele der Iraner. Teheran hat mit seinen Drohnenexporten nach Russland gezeigt haben, dass es massenhaft solche Geschosse herstellen kann.
Israel würde wohl mit seiner hochmodernen Luftwaffe den Iran direkt angreifen und Teheran-treue Milizen im Irak, Syrien und Libanon unter Beschuss nehmen. Die USA, die mit Kriegsschiffen und Stützpunkten in der Region präsent sind, würden Israel helfen, iranische Raketen abzufangen und Verbündete Teherans wie die Huthis zu bombardieren. Israel und die USA könnten zudem versuchen, den Iran mit Cyberangriffen lahmzulegen, so wie sie es schon vor Jahren mit dem iranischen Atomprogramm getan haben.
Der Krieg würde voraussichtlich nicht nur in der Luft und im Internet ausgetragen. Israel hat bereits Pläne für eine Bodenoffensive gegen die Hisbollah im Libanon ausgearbeitet. Pro-iranische Milizen in Syrien könnten umgekehrt versuchen, die von Israel annektierten Golan-Höhen zu erobern.
Der Blutzoll eines solchen Konfliktes wäre gewaltig. Eine Simulation der Abrüstungs-Organisation NPEC kam zu dem Schluss, dass bei einem Massenangriff von Raketen auf Israel mehr Menschen getötet würden als beim Hamas-Überfall am 7. Oktober, bei dem 1200 Israelis gestorben sind. Ein israelischer Gegenschlag auf pro-iranische Gruppen in der Region würde demnach mehr als 2000 Menschen töten. In der NPEC-Simulation stand der Iran kurz vor dem Bau einer Atombombe – Israel würde demnach seine eigenen Atomwaffen einsetzen, um die Iraner zu stoppen.
Weltwirtschaft würde unter steigendem Ölpreis leiden
Doch selbst ohne Atombombe hätte der Krieg verheerende Folgen. Die Weltwirtschaft würde wegen steigender Ölpreise und Hindernissen für die Schifffahrt in eine Krise stürzen. Die Regierungen in der Türkei, Jordanien und Ägypten würden voraussichtlich durch anti-westliche Proteste innenpolitisch unter Druck geraten.
Der Iran soll Saudi-Arabien, Jordanien und anderen Ländern bereits damit gedroht haben, sie ebenfalls anzugreifen, falls sie bei der Verteidigung Israels helfen sollten, etwa indem sie iranische Raketen abschießen oder ihren Luftraum für amerikanische oder israelische Flugzeuge öffnen, wie sie das bei den iranischen Angriffen auf Israel im April getan hatten. Auch deshalb dürfte die arabische Hilfe für Israel diesmal ausbleiben, meint Thomas Demmelhuber, Nahost-Experte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. „Ich halte es für unwahrscheinlich, dass ein Land wie Jordanien nochmals in ähnlicher Art und Weise Unterstützung leisten würde“, sagt Demmelhuber. Von den Golfstaaten erwarte er eine ähnliche Zurückhaltung.
In einigen Ländern könnte der Krieg die Regierungen stürzen. Das theokratische Regime im Iran ist ohnehin angeschlagen, weil es Korruption und Wirtschaftskrise nicht in den Griff bekommt und Forderungen aus der Bevölkerung nach politischen Reformen ablehnt. Sollte der Iran im Krieg gegen Israel unterliegen, könnt das einen Volksaufstand gegen die Islamische Republik auslösen.
Angst vor dem Ausmaß bremst die Konfliktparteien
Noch ist der Krieg nicht unausweichlich. Seine absehbaren Folgen sind so umfassend, dass die Beteiligten davor zurückschrecken könnten. So erkennt Experte Demmelhuber beim Iran kein Interesse an einem Großkonflikt. Das Regime will sein eigenes Überleben und das seiner Verbündeten wie der Hisbollah sichern. „Hisbollah ist der Juwel einer iranischen Doktrin der ‚Vorwärtsverteidigung‘“, sagt Demmelhuber. „Diese außenpolitische Trumpfkarte will Iran nicht aufs Spiel setzen.“
Das heißt nicht, dass es Frieden geben wird: Ein Zurück zu der Zeit vor dem Hamas-Angriff auf Israel sei sehr unwahrscheinlich, sagt Demmelhuber. Die Entwicklung läuft nach seiner Einschätzung auf einen „begrenzten Konflikt wie seit dem 7. Oktober“ hinaus, bei dem sich Israel und der Iran manchmal indirekt über Verbündete und manchmal direkt bekämpfen.
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