100 Jahre wurde Henry Kissinger alt – eine Lebenszeit, die schon per se Respekt einflößt. Wenn diese lange Zeit aber noch derart reich mit Denkwürdigkeiten, epochalen Erfolgen und Niederlagen angefüllt ist, beginnt die Suche nach originellen Superlativen – aus der man im Falle Henry Kissingers allerdings schnell wieder aussteigen sollte. Die Dinge sprechen für sich. Kein Spitzendiplomat der Neuzeit war so lange auf höchster Ebene aktiv, als Berater, US-Außenminister, dann wieder als Berater.
Das Ausmaß, in dem der gebürtige Franke verehrt, aber auch verachtet wurde und wird, spiegelt seine überragende Bedeutung wider. Die Urteile über Kissinger changieren zwischen den Polen genialer Staatsmann und skrupelloser Machtpolitiker. Nun ist er in seinem Zuhause im Bundesstaat Connecticut gestorben.
Henry Kissingers Bindung an seine Geburtsstadt Fürth blieb immer eng
„Heinz Alfred Kissinger“ steht auf dem Geburtsschein, der das Datum 27. Mai 1923 und den Geburtsort Fürth ausweist. Die deutsch-jüdischen Eltern wurden 1938 durch die Repressionen der Nazis, unter denen auch der Schüler Heinz Alfred litt, aus dem Land getrieben. In New York wurde Heinz zu Henry, doch Kissingers emotionale Bildung zu seiner Geburtsstadt Fürth wie auch zum örtlichen Fußballverein blieb intakt, immer wieder besuchte er die fränkische Stadt.
Für den schüchternen jungen Mann war der Neustart in den USA eine schwierige Zeit. Doch Einbürgerung und Militärdienst ab 1943 mit Einsätzen in Europa stärkten sein Selbstbewusstsein. Im Verlaufe des Krieges stieß er zur Spionageabwehr. Perfekte Deutschkenntnisse, sein Hunger nach Bildung und der aufscheinende brillante Intellekt prädestinierten ihn für diese und später für weit größere Aufgaben. Bis 1947 blieb Kissinger in Deutschland.
Henry Kissinger war unter Präsident Nixon Sicherheitsberater im Weißen Haus
Zurück in den USA stürzte sich Kissinger in das Studium der Politikwissenschaften in Harvard, er promovierte 1954. Sein exzellentes Wissen über die Feinheiten internationaler Politik und Militärdoktrin war nicht zu übersehen. Er knüpfte als Berater ein enges Netz an Kontakten in Washington. Und doch war der aufstrebende 46-Jährige irritiert, zumindest aber überrascht, als ihm 1969 der republikanische Präsident Richard Nixon den mächtigen Posten des Sicherheitsberaters im Weißen Haus offerierte.
Letztlich folgte Kissinger dem Ruf Nixons. Eine folgenreiche Weichenstellung – Start einer großen politischen Karriere, aber auch Ausgangspunkt für Verstrickungen. Ab September 1973 war der Senkrechtstarter in Ämterunion auch als Außenminister ständig unterwegs. Und offensichtlich nicht nur auf Politik fokussiert: Damals galt als offenes Geheimnis, dass Kissinger auf diesen Reisen auch amourösen Abenteuern nicht abgeneigt war.
In Krisensituationen griff er auf seine legendäre Pendeldiplomatie zurück – rastlos reiste er in die Hauptstädte der in einen Konflikt verwickelten Staaten. Spötter scherzten, dass er schon sein eigenes Antlitz in einem entgegenkommenden Jet erblickt habe. Ein Witz, der später auch über den deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher gerissen werden sollte.
Die Liste der Erfolge von Henry Kissinger ist lang
Die Liste der diplomatischen Erfolge ist lang: Er leitete die Verständigung mit China und der Sowjetunion ein, handelte Abrüstungsverträge aus, erreichte eine zwischenzeitliche Befriedung im Nahen Osten. Seine Gegner kritisieren, dass er aus reinem Machtkalkül grausame Diktaturen, wie das chilenische Pinochet-Regime gestützt habe – kurz Politik ohne Moral betrieben habe.
Und dann ist da noch: Vietnam. Der Einsatz der USA in diesem gnadenlosen Krieg mit Millionen Opfern endete nicht nur mit einer militärischen Niederlage, er ließ auch eine traumatisierte US-Gesellschaft zurück – Kissinger trägt für diese Katastrophe eine Mitverantwortung. Gleichzeitig war seine Rolle derart facettenreich, dass auch hier scheitert, wer die Schwarz-Weiß-Schablone zur Hand nimmt. Bis heute ist umstritten, welche Rolle Kissinger als damaliger Außenminister konkret bei der geheimen Bombardierung Kambodschas während des Vietnamkriegs spielte, die der grausamen Roten Khmer den Weg zur Macht ebnete.
Umstrittene Auszeichnung: Henry Kissinger erhielt 1973 den Friedensnobelpreis
Andererseits war es Kissinger, der nach jahrelangen Geheimgesprächen mit dem nordvietnamesischen Unterhändler Le Duc Tho 1973 einen Friedensvertrag präsentierte. Dass er dafür, wie auch Le Duc Tho, noch im selben Jahr den Friedensnobelpreis erhielt, galt nicht nur Zeitgenossen als schlechter Witz. Zumindest war die Entscheidung voreilig, denn der Krieg tobte noch bis 1975. Le Doc Tho verzichtete auf die Auszeichnung, Kissinger nicht.
Während Nixon nach der Watergate-Affäre zurücktreten musste, blieb Kissinger unter dem neuen US-Präsidenten Gerald Ford im Amt. Erst als der Demokrat Jimmy Carter im Januar 1977 als Präsident vereidigt wurde, musste der bekannteste Diplomat der Welt seinen Posten räumen.
Von nun an „diplomatisierte“ Kissinger erst recht auf allen Kanälen: zunächst als Berater von US-Regierungen, in Konferenzen, in seinen dreibändigen Memoiren, Büchern über die Weltpolitik, in Aufsätzen, Analysen, Interviews. Was Kissinger schreibt oder mit knarzig-rauer Stimme sagt, ist oft tiefschürfend, manchmal etwas spröde, meist aber so prägnant wie unterhaltsam. Der Zuhörer oder Leser gerät in seinen Bann, hört weiter zu, liest weiter. Ein Phänomen – bis zu seinem Lebensende.
Zwar reagierte der Vater zweier Kinder, der in zweiter Ehe mit Nancy Sharon in Connecticut lebte, allergisch, wenn man ihn auf den Vietnamkrieg anspricht. Doch weder Herzoperationen noch sein eingeschränktes Hör- und Sehvermögen hinderten Kissinger daran, mit frappierender geistiger Frische über internationale Politik zu dozieren. Sogar Fehler räumte er zuletzt entspannter ein: Jüngst erklärte er, dass er seine Ablehnung einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine mit Blick auf den russischen Angriffskrieg revidieren müsse. Ausdauernd warnt er hingegen vor einer Konfrontation zwischen China und den USA, die in einer atomaren Katastrophe enden könne.
Kissinger: "Echte Dilemmas sind seelische Belastungen, unerträgliche Qualen."
Vielleicht sagt ein Brief Henry Kissingers von 1948 an seine Eltern, aus dem der Historiker Niall Ferguson in seinem Werk „Kissinger“ zitiert, mehr als alle politischen Analysen über den Mann, der hundert Jahre alt wurde: „Nur die hartherzigsten Menschen entscheiden sich für etwas, von dem sie wissen, dass es falsch ist. Die wahre Tragödie liegt in dem Dilemma abzuwägen, was richtig ist. Echte Dilemmas sind seelische Belastungen, unerträgliche Qualen.“