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Nachruf: Ex-Minister Norbert Blüm: Ein Wanderer zwischen den Welten

Nachruf

Ex-Minister Norbert Blüm: Ein Wanderer zwischen den Welten

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    Norbert Blüm ist im Alter von 84 Jahren gestorben.
    Norbert Blüm ist im Alter von 84 Jahren gestorben. Foto: Rolf Vennenbernd, dpa

    Vor zwei Wochen hat Theo Waigel noch einen Brief von Norbert Blüm bekommen. „Ich liege hier und stiere die Decke an“, berichtet der frühere Sozialminister dem früheren Finanzminister da. „Das ist nicht sehr abwechslungsreich, aber ich habe viel Zeit, nachzudenken.“ Blüm, nach einer Blutvergiftung im vergangenen Jahr von den Schultern abwärts gelähmt, erinnert sich auch noch an ein Treffen mit Helmut Kohl und etlichen anderen Ministern aus dieser Zeit in Waigels Allgäuer Heimat im September 1999 und an eine große Bergwanderung am Tag danach. „Die Kondition Ihrer Frau Irene war so gut wie unser beider zusammen.“ Trotzdem: „Schön war‘s.“

    Am Donnerstagabend ist Norbert Blüm im Alter von 84 Jahren gestorben – der einzige aus Kohls Kabinetten, der dem Altkanzler die vollen 16 Jahre als Minister diente. Ein Mann, so kämpferisch wie jovial, temperamentvoll, emphatisch und von entwaffnender Offenheit obendrein. Waigel, zum Beispiel, erinnert sich noch gut an einen mittelschweren Disput über Blüms Etat in finanziell klammen Zeiten. „Sie müssen auch mal einen Vorschlag machen, wo Sie sparen können“, habe er damals verlangt. Worauf Blüm nur geantwortet habe: „Herr Waigel, mir fällt nichts mehr ein.“

    Zeitweise versucht sich Blüm gar als Kabarettist

    Bewundert, sagt eben jener Waigel heute, habe er Blüm auch trotz der gelegentlichen Konflikte: Für seinen Einsatz für soziale Gerechtigkeit, vor allem, aber auch für seine Fröhlichkeit und seinen Humor, zwei in der deutschen Politik eher selten anzutreffende Tugenden. „Er hat gezeigt, dass Politik Freude machen kann.“ Zeitweise versucht Blüm sich gar selbst als Kabarettist.

    Eigentlich sei er immer ein Wanderer zwischen den Welten gewesen, sagt er Jahre nach seinem Ausscheiden aus der Politik. Nie habe er irgendwo so richtig dazu gehört. In der IG Metall, in die der angehende Werkzeugmacher schon mit 14 Jahren eintritt, ist Blüm stets der Schwarze – und in der CDU der Rote. Der Herz-Jesu-Sozialist, der auf dem Abendgymnasium noch das Abitur macht, der als Stipendiat der VW-Stiftung Philosophie, Geschichte und Theologie studiert, der in einer Vorlesung des späteren Papstes Joseph Ratzinger seine Frau kennenlernt und Aufsätze über den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital schreibt. Auch seine Sozialpolitik entspringt diesem Denken: Im Zweifel, findet der zwischenzeitlich promovierte Blüm, ist der Staat der verlässlichste Partner. „Denn eins ist sicher – die Rente“, lässt er 1996 plakatieren. Das aber hindert ihn nicht daran, eine Rentenerhöhung auch einmal ein halbes Jahr auszusetzen oder einen Faktor in die Rentenformel einzubauen, der den Anstieg der Renten dämpfen soll. Auch die gesetzliche Pflegeversicherung gäbe es ohne ihn nicht – oder zumindest nicht in dieser Form.

    Theo Waigel: Blüm "hat es nicht einfach gehabt in seiner Partei"

    „Er hat es nicht einfach gehabt in seiner Partei“, sagt Theo Waigel. „Aber er hat nie den Kopf eingezogen.“ Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik bleibt Blüm ein streitbarer Geist und ein geschickter Vermarkter seiner selbst. Für einen Fernsehsender etwa besucht er, als Tourist getarnt, die WM-Baustellen in Katar und fordert den damaligen Fifa-Chef Josef Blatter anschließend auf, doch selbst einmal für zwei Wochen in das Emirat zu ziehen. „Dann würde er keine Weltmeisterschaft mehr an ein Land vergeben, das Gastarbeiter wie Sklaven ausbeutet.“ Er unterstützt die Palästinenser in ihrem Kampf für einen eigenen Staat, prangert bei einem Besuch im griechischen Flüchtlingslager Idomeni die Zustände dort als „Anschlag auf die Menschlichkeit“ an und übernachtet demonstrativ in einem Zelt. Sogar ein Buch über die Willkür in deutschen Gerichtssälen schreibt er.

    Blüm, der Anwalt der kleinen Leute, der unerschrockene Kämpfer für die Zu-Kurz-Gekommenen und Benachteiligten: „Er ist nie den einfachen Weg gegangen“, sagt Theo Waigel. In einem Alter, in dem seine Kollegen lieber um die Häuser ziehen, engagiert sich der Lehrling Blüm bei Opel bereits als Jugendvertreter. Wenig später tritt er in die CDU ein, für die er 1972 in den Bundestag einzieht. Als Blüm ihn 30 Jahre später wieder verlässt, bucht er das im schönsten Arbeiterdeutsch als „Schichtende“ ab. Er müsse aufpassen, sagt er damals, nun nicht in die Rolle des nörgelnden Großvaters zu rutschen - und kann es doch nicht lassen, sich einzumischen.

    Blüm schont auch seine eigene Partei nicht

    Auch seine eigene Partei, der er unter anderem eine „Verwirtschaftung der Gesellschaft“ vorwirft, schont Blüm zeitlebens nicht. In der Spendenaffäre fordert er seinen frühen Förderer Kohl gar auf, den Ehrenvorsitz niederzulegen – es ist der endgültige Bruch zwischen ihnen. Kohl hält Blüm für einen Verräter, Blüm selbst dagegen beteuert, ihr Konflikt um die unbekannten Spender schmäle seinen Respekt vor Kohls Lebensleistung nicht. Einen Brief, in dem er den Altkanzler bittet, Frieden miteinander zu machen, ehe sich einer von ihnen ins Grab lege, lässt Kohl jedoch unbeantwortet. Blüm kommt 2017 trotzdem zu dessen Beerdigung. Wenn man so wolle, sagt Waigel, „dann hat er am Grab den alten Streit begraben.“

    Irgendwann beginnt Blüm damit, alte Weggefährten noch einmal anzurufen – geschätzte und weniger geschätzte. Dass man jenseits der 80 mehr Freunde hinter den Friedhofsmauern habe als davor, spottet er noch im Dezember 2018 in einem Interview mit unserer Zeitung, „gehört zum Altwerden dazu.“ Und was Helmut Kohl angehe, bleibe der trotz allem für ihn ein großer Staatsmann: „Ich bedauere es sehr, dass wir so auseinander gegangen sind.“

    Das Schicksal trifft Blüm spät, aber hart

    Ihn selbst trifft das Schicksal spät, aber hart. Wie ein Dieb, diktiert er seiner Frau im März für einen Beitrag in der Zeit, sei das Unheil in Gestalt einer heimtückischen Blutvergiftung in sein Leben eingebrochen. „Ich bin an Armen und Beinen gelähmt. Basta. Der Rollstuhl ist der Standort, von dem aus ich die Welt jetzt betrachte.“ Blüm hadert sehr mit diesem Schicksal, aber er verliert dabei auch die nicht aus dem Blick, die nahezu täglich mit Schicksalen wie seinem konfrontiert werden.

    Pflegekräfte, klagt der Erfinder der Pflegeversicherung, würden heute nur allzu häufig als ausgebeutete Objekte dargestellt. Er jedoch habe es im Krankenhaus immer „wie einen Lichtschein empfunden, wenn die Tür sich öffnete und eine Schwester oder ein Pfleger ins Zimmer trat.“ Auch in der Stunde des Todes, fügt Blüm dann noch hinzu, „würde ich lieber die Hand eines Menschen spüren als die kalte Klaue eines Roboters.“

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