Allein die Tatsache, dass die Chefin der EU-Kommission höchstpersönlich nach Großbritannien reiste, schürte Hoffnungen auf einen Durchbruch im Dauer-Drama Brexit. Gleichwohl wurde Ursula von der Leyens Trip am Montag auch als Zeichen gewertet, dass die EU wieder mehr Vertrauen in die britische Regierung gewinnt. Würde es endlich eine Einigung zwischen London und Brüssel über den größten Zankapfel, das sogenannte Nordirland-Protokoll, geben? Am Ende stieg weißer Rauch über dem englischen Städtchen Windsor auf. Von der Leyen und der britische Premierminister Rishi Sunak verkündeten einen Deal. Und nicht nur der Kompromiss deutete auf einen möglichen Neubeginn der Beziehung zwischen den beiden Partnern hin, die nach Jahren des Streits als völlig zerrüttet gilt. Auch der Ton klang plötzlich wieder nach freundschaftlicher Annäherung. Die beiden Politiker wollten am frühen Abend eine Pressekonferenz abhalten.
Die Deutsche hatte sich schon vor ihrer Ankunft auf der Insel optimistisch gezeigt. Sie freue sich darauf, "ein neues Kapitel mit unserem Partner und Freund aufzuschlagen", hieß es von der Brüsseler Behördenchefin auf Twitter. Die Streitigkeiten drehten sich um jenen Teil des Austrittsvertrags, der bestimmt, dass sich die Zollgrenze zwischen Großbritannien und der EU in der Irischen See befindet. Als Folge ist die einstige Unruheprovinz im Norden des Landes an die Zoll- und Produktregeln der Union gebunden, womit man verhindern wollte, dass Laster zwischen der zum Königreich gehörenden Provinz und der Republik Irland sichtbar kontrolliert werden müssen.
Kompromiss beinhaltet offensichtlich nur noch stichprobenartige Kontrollen
Um viele Details rangen die Unterhändler in den vergangenen Wochen und Monaten hinter verschlossenen Türen, erst um 16 Uhr am Montagnachmittag informierte Kommissionsvizepräsident Maroš Šefčovič die EU-Botschafter in Brüssel über die Einigung. Sie sieht Medienberichten zufolge vereinfachte Zollkontrollen für Waren vor, die von Großbritannien nach Nordirland befördert werden und im Vereinigten Königreich bleiben. Welche Dokumente müssen Händler künftig ausfüllen, welche Regeln beachten und wie sollen die Formalitäten kontrolliert werden? Der Kompromiss zielt offenbar darauf ab, dass die Grenzbeamten nur noch stichprobenartige Kontrollen bei Gütern durchführen, die als finales Ziel Nordirland haben.
Dagegen soll es weiterhin vollständige Verfahren zur Prüfung von Lebensmitteln geben, die aus England, Wales und Schottland an den Fährhäfen landen und dann weiter in die Republik Irland, also in einen EU-Mitgliedstaat, transportiert werden. Darauf hatten auch Europaabgeordnete stets bestanden, um sicherzustellen, dass die Waren EU-Standards entsprechen. Die Lastwagen gelangen schließlich auf den EU-Binnenmarkt mit seinen rund 450 Millionen Verbrauchern. Wichtig sei, so sagte die Grünen-Europaabgeordnete Anna Cavazzini vor der Bekanntgabe des Deals, "dass die Lösung des Zollstreits so gestrickt ist, dass sie den Frieden auf der irischen Insel schützt und gleichzeitig den Binnenmarkt nicht gefährdet". Diese Herausforderung werde "bei sich immer weiter auseinanderentwickelnden Standards im Vereinigten Königreich und der EU immer größer", sagte die Vorsitzende des zuständigen Ausschusses des EU-Parlaments.
Zumindest geringe Zugeständnisse vonseiten Brüssels gab es laut Insidern bei der Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Nordirland. Die EU hatte darauf bestanden, dass der EuGH in etwaigen Streitfragen zwischen den Vertragsparteien als Schiedsrichter fungieren soll. Für die Brexit-Hardliner auf der Insel handelte es sich dagegen um eine zwar symbolische, aber besonders toxische Hürde. Nun versuchten die Brüsseler Vertreter offenbar, London mit einem Vorschlag entgegenzukommen, wonach Zwistigkeiten zunächst über spezialisierte Ausschüsse oder ein Schiedsverfahren zu regeln sind, bevor der EuGH angerufen wird. Ob das ausreichen wird? Die nächsten Wochen werden es zeigen.