Jan-Hendrik Lübcke schiebt den Zeugenstuhl zurück. „Darf ich es kurz vorführen?“, fragt er den Vorsitzenden Richter. Dann rutscht der Sohn des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten auf seinem Stuhl nach vorn, legt den Rücken auf der Lehne ab, den Kopf lässt er in den Nacken sinken. Er schließt die Augen und öffnet den Mund. „So“, sagt er, „habe ich Papa gefunden.“
Der siebte Verhandlungstag im Mordfall Walter Lübcke steht ganz im Zeichen der Vernehmung des jüngeren Lübcke-Sohns. Nur sehr spärlich hatte sich Familie Lübcke bislang zur Tat geäußert, Medienanfragen abgeblockt. Entsprechend groß waren die Erwartungen an die Zeugenaussagen Lübckes an diesem Dienstag. Doch bevor Jan-Hendrik Lübcke in den Zeugenstand gerufen werden kann, hat das Gericht noch einen Beschluss vom Vortag zu verkünden. Der Vorsitzende Richter Sagebiel erklärt, was alle schon vermutet hatten: Auf Antrag des Hauptangeklagten Stephan Ernst entbindet das Gericht dessen Pflichtverteidiger, den Dresdner Rechtsanwalt Frank Hannig, von seinen Pflichten. Am Montag war es im Gerichtssaal in Frankfurt zum Eklat gekommen, als Hannig unter anderem angeregt hatte, einen Einbruch im Kasseler Regierungspräsidium wenige Wochen nach der Tat genauer untersuchen zu lassen.
Möglicherweise, raunte er, seien dort Akten gestohlen worden, die Details zu zwielichtigen Geschäften der Lübcke-Söhne enthalten könnten. Einen Beleg für seine Unterstellungen nannte Hannig nicht, entsprechend ungehalten reagierte Richter Sagebiel: „Diese Anträge sind gequirlter Unsinn.“ Auch Hannigs Verteidigerkollege Mustafa Kaplan zeigte sich überrascht. Sein Mandant und er hätten nichts gewusst von Hannigs Anträgen. „Wir haben kein Interesse, dass Herr Lübcke und seine Söhne mit Dreck beworfen werden.“ Sagebiel folgt dem Antrag Ernsts, Hannig loszuwerden. Dann kann die Vernehmung Lübckes beginnen.
Noch am Abend des Mordes hatten Walter Lübcke und sein Sohn zusammen geflachst
Zunächst fragt der Richter Personalien ab: Jan-Hendrik Lübcke, 30 Jahre alt, selbstständig mit der Firma „BLG Projects“, die er zusammen mit seinem älteren Bruder Christoph und einem Cousin führt, sie vertreiben Fotovoltaikanlagen. Dann wünscht sich Sagebiel eine Schilderung Lübckes zum Tag der Tat. Und der erzählt mit fester Stimme, was er erlebt hat.
Der Samstag, so schildert es Jan-Hendrik Lübcke, beginnt für ihn zunächst mit seinem größten Hobby, einer Fahrradtour. Nachmittags wechselt er die Reifen am Auto seiner Frau. Gemeinsam mit ihr wohnt Lübcke bis heute im Obergeschoss des Hauses in Wolfhagen-Istha, in dessen Untergeschoss auch sein Vater lebte und auf dessen Terrasse der letztendlich erschossen wurde.
Große Prozesse gegen Rechtsextremisten in Deutschland
Dem Prozess im Mordfall Walter Lübcke gingen zahlreiche Gerichtsverfahren gegen Rechtsextremisten in Deutschland voraus. Wichtige Urteile im Überblick:
Der "Bückeburger Prozess": 1979 werden erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Rechtsextremisten wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Vier Angeklagte aus dem Umfeld des Hamburger Neonazis Michael Kühnen erhalten wegen Überfällen und Anschlagsplänen zwischen acht und elf Jahre Haft.
"Wehrsportgruppe Hoffmann": Karl-Heinz Hoffmann, der Gründer der 1980 verbotenen Wehrsportgruppe, wird 1986 wegen verschiedener Delikte zu über neun Jahren Haft verurteilt. Vom Doppelmord an einem jüdischen Verlegerpaar wird er vor dem Nürnberger Schwurgericht jedoch freigesprochen.
Kay Diesner: 1997 wird der Neonazi wegen Mordes an einem Polizisten und versuchten Mordes an einem weiteren Polizisten sowie einem linken Buchhändler zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Lübecker Landgericht wirft ihm «menschenverachtende Verblendung» vor.
"Gruppe Freital": Das Oberlandesgericht Dresden verhängt 2018 gegen die rechtsextreme «Gruppe Freital» Haftstrafen zwischen vier und zehn Jahren. Die acht Angeklagten werden unter anderem wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung und versuchten Mordes verurteilt.
NSU-Prozess: Die Rechtsterroristin Beate Zschäpe wird 2018 wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Über fünf Jahre wurden am Oberlandesgericht München die rassistischen Morde des sogenannten «Nationalsozialistischen Untergrunds» (NSU) zwischen 2000 und 2006 sowie der Mord an einer Polizistin verhandelt.
Anschlag von Halle: Voraussichtlich ab Juli 2020 muss sich Stephan B. nach dem versuchten Anschlag auf eine Synagoge und dem Mord an zwei Menschen vor dem Oberlandesgericht Naumburg verantworten. B. hatte im Oktober 2019 versucht, in der Synagoge ein Blutbad unter den dort versammelten Gläubigen anzurichten. (dpa)
Noch am Nachmittag, erzählt Lübcke, habe er „den Papa“ gesehen, wie der Unkraut rund ums Haus abgeflammt habe. Auch abends trifft er den Vater, flachst mit ihm, weil der sich ein neues Auto kaufen möchte. Dann bricht Lübcke, begleitet von drei Freunden, zur Isthaer Kirmes auf, nur wenige Meter vom Haus der Lübckes entfernt. Beim Rübergehen hören sie die wummernden Bässe der Liveband. „Die spielen Ballermann-Musik, machen ziemlich Rabbatz“, sagt Lübcke. Es ist seine Musik, die Kirmes jedes Jahr ein Pflichttermin. „Im Dorf wohnen 850 Menschen, 99 Prozent kennt man“, sagt er. Er spricht mit Freunden, Bekannten, Dorfbewohner, trinkt keinen Alkohol, es wird trotzdem ein schöner Abend. Gegen halb eins kehrt er zum Haus zurück.
Kurz wundert er sich über die nur angelehnte Terrassentür und ein brennendes Licht, dann beschließt er, zunächst den Akku seines E-Bikes einzustecken für eine geplante Tour am nächsten Morgen. Erst dann betritt er über das Haus die Terrasse, um nachzusehen, ob sein Vater noch draußen sitzt. Als er sieht, wie sein Vater zurückgesunken im Stuhl sitzt, denkt Lübcke zunächst, dieser sei eingeschlafen. „Ich habe ihn angestupst, am Arm und an der Wange. Er hat nicht reagiert und sich kalt angefühlt.“ Sein nächster Gedanke sei ein medizinischer Notfall gewesen. „Er war ja nicht der Schlankeste, wir haben ihm oft gesagt, er könnte ein bisschen abnehmen, auch, um noch mehr Zeit mit seinen Enkeln zu haben. Nun dachte ich: Jetzt ist passiert, worüber wir immer gesprochen haben – und er hat einen Herzinfarkt erlitten.“
Ein Arzt teilt wenig emphatisch den Tod des Vaters und Politikers mit
Lübcke wählt die 112, es dauert lange, bis der Rettungswagen vorfährt. In der Zwischenzeit versucht er, seinen Vater zu reanimieren. Er entdeckt Blutspritzer an der Wand, sieht, wie die rechte Gesichtshälfte seines Vaters mit Blut volläuft. Erst, als die Sanitäter ein paar Minuten später eintreffen, kann Lübcke seine Mutter verständigen, dann ruft einen Freund an. „Ich habe gesagt: Es ist etwas passiert, hol Christoph!“
In der Folge berichtet er minutiös, was weiter passiert: Wie der Vater auf Drängen der Familie ins Krankenhaus gefahren wird, obwohl die Sanitäter wohl schon da wussten, das Lübcke sterben wird. Wie die Söhne nachfolgen, wie ein Arzt ihnen schließlich wenig empathisch mitteilt, dass ihr Vater verstorben sei. Und wie sie spät in der Nacht erfahren, dass im Kopf des Vaters ein Gegenstand gefunden worden sei.
Am Ende seiner Aussage, die rund zwei Stunden dauert, hat Richter Sagebiel noch eine Frage. „Auch wenn es schwer fällt, Herr Lübcke: Was hat diese Tat mit Ihnen und der Familie gemacht?“
Jan-Hendrik Lübcke atmet tief. „Der Mord bleibt unbegreiflich. Wir werden damit niemals fertig werden.“
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