Eine halbe Stunde ist seit der Abbiegung von der Interstate 90 auf die abgelegene Schotterstraße vergangen, als das laute Rattern eines Viehgitters unter den Autoreifen die baldige Ankunft am Zielort ankündigt. „Lazy Six Nine Ranch“ steht auf dem Querbalken eines hölzernen Tors. Darunter grüßt eine Frau im blau-schwarz-karierten Flanellhemd, mit Baseballkappe und einer mächtigen Rodeo-Brosche am Jeans-Gürtel. Hat sie etwa hier in der Mittagssonne auf den Besucher gewartet? „Nein, nein“, sagt Cheyenne Glade Wilson und winkt ab. Dann deutet sie in die andere Richtung: Kurz vor dem Horizont rollt eine Staubwolke durch die Landschaft auf die Ranch zu. „Der Paketbote“, erklärt sie, „der bringt drei Kisten mit Küken. Die muss ich schnell in Empfang nehmen.“
Das Leben am Fuße der Beartooth Mountains nahe der Grenze von Montana und Wyoming ist einsam. Drei Wochen hing Wilson mit ihrer Familie im vergangenen Winter im meterhohen Schnee fest. Doch die 50-Jährige ist an das Landleben gewöhnt. Schon als kleines Mädchen wollte sie Cowgirl werden. Auf der Highschool ritt sie ihren ersten Rodeo. Nun züchtet sie in der fünften Generation Pferde und Kälber. 75 Pferde, 100 Rinder, dazu 125 Hühner. Und 1400 Hektar Land – das ist viermal so groß wie der Central Park in Manhattan. Für Wilson ist das ein Leben, von dem sie immer geträumt hat. Damit ist sie keineswegs allein: Mit seinen abgeschiedenen Tälern, den wildreichen Wäldern und den legendären Fischgründen unter einem endlos erscheinendem Himmel ist Montana das Sehnsuchtsziel vieler Amerikaner.
Wohlhabende Neubürger kaufen in den schönsten Ecken des „Big Sky Country“ Land und Häuser auf
Zwar leben in dem US-Bundesstaat gerade mal 1,1 Millionen Menschen auf einer mit Deutschland vergleichbaren Fläche. Aber: Zehntausende wohlhabende „Transplants“, die Jahr für Jahr aus anderen Bundesstaaten zuziehen, kaufen in den schönsten Ecken des „Big Sky Country“ Land und Häuser auf, treiben die Preise in astronomische Höhen und katapultieren damit die nach dem Immobilienwert berechnete Grundsteuer nach oben. In einigen Tälern hat eine regelrechte Turbo-Gentrifizierung eingesetzt.
Auch Cheyenne Wilson hat neue Nachbarn. Ein paar Meilen nördlich wurde an einem Bach ein schickes Holzhaus mit Doppelgarage errichtet. Ein Stück weiter sieht man einen traurigen Bretterverschlag. „Das ist die Silver Creek Ranch“, erläutert Wilson. Die Alteigentümer leben noch in der Hütte. Den Rest ihres Anwesens mussten sie an Zuzügler aus Texas verkaufen. „Die haben Geld und sind nur im Sommer da“, sagt sie.
Die Binnenmigration aus Kalifornien, Oregon oder Washington State ist kein neues Phänomen in Montana. Doch seit der Corona-Pandemie ist sie regelrecht explodiert. Und daran ist maßgeblich die Netflix-Serie „Yellowstone“ schuld, die in der Gegend spielt und den Bundesstaat von seiner berauschendsten Seite zeigt. Paradoxerweise kämpft Kevin Costner als Familienpatriarch John Dutton in dem Neo-Western mit allen Mitteln für den Erhalt seiner riesigen Ranch und gegen jene Investoren, Spekulanten und Großstadtflüchtlinge, die der Film nun im echten Leben massenhaft anlockt.
Wilson hat alle Folgen gesehen. „Das ist gute Unterhaltung“, urteilt sie: „Aber es zeigt nicht die Realität.“ Natürlich würden die Arbeiter nicht mit einem heißen Eisen gebrandmarkt, und es gebe auch keinen imaginären „Bahnhof“ an einer Schlucht, bei dem die Rancher gelegentlich Leichen verschwinden lassen. Am meisten hat Wilson der gezeigte Reichtum gestört: „Ein Rancher, der Fahrzeuge und Hubschrauber mit seinem Logo besitzt? Das ist ein bisschen zu viel“, findet sie.
Mit geliehenem Geld haben Wilson und ihr Mann vor acht Jahren ihre Ranch gekauft. Heute ist sie mutmaßlich sechs Millionen Dollar wert, aber das hilft ihnen nichts. Jedes Jahr müssen sie eine sechsstellige Summe an die Bank zahlen. „Das Leben ist teuer geworden“, sagt die Frau mit indigenen Wurzeln. Die Viehzucht alleine nährt die Familie nicht. Also arbeiten ihr Mann und ihr 15-jähriger Sohn wochentags auf einer anderen großen Farm in der Nähe. Cheyenne kümmert sich um die eigenen Tiere und verkauft nebenbei Vitaminpräparate. „Manchmal haben wir am Ende des Jahres kaum einen Cent übrig“, erzählt sie.
Der Kontrast zum Leben der Transplants, der Zugezogenen, könnte kaum größer sein. Besonders zeigt sich das im anderthalb Stunden entfernten Bozeman, das von einem verschlafenen Western-Ort zu einer der am schnellsten wachsenden Kommunen der USA mutiert ist. Deren Einwohnerzahl hat sich seit der Jahrtausendwende auf knapp 60.000 verdoppelt.
Im Uhrenladen gibt es nun Modelle von Patek Philippe und Rolex
An der hübschen Main Street mit ihren zweigeschossigen Backsteinbauten schießen Coffeeshops und Yoga-Studios regelrecht aus dem Boden. Der Schuhladen „Lucchese“ verkauft Lederstiefel für 1740 Dollar das Paar, die „Backcountry Burger Bar“ offeriert „Trüffel-Burger“, und in der Buchhandlung ist prominent ein Stapel von „Yellowstone“-Kochbüchern mit angeblichen Rezepten der Dutton-Familie aufgetürmt. So hoch sind die Preise, dass ein Bekleidungsgeschäft ein paar Türen weiter Einheimische mittwochs mit einer Art Sozial-Rabatt von 20 Prozent lockt.
„Der Wandel ist dramatisch“, sagt Dave Berghold. Seit 34 Jahren repariert und verkauft der Uhrmacher an der Hauptstraße von Bozeman Zeitmesser. Anfangs lagen in den Vitrinen von „The Last Windup“ neben einzelnen Sammlerstücken vor allem Uhren aus dem mittleren Preissegment. Inzwischen gehören Modelle von Patek Philippe und Rolex selbstverständlich zum Sortiment. Auch die Klientel hat sich verändert: Früher, berichtet der feinsinnige 60-Jährige, hätten die Kunden bisweilen Latzhosen getragen und Kuhmist an den Schuhen gehabt. Jetzt fahren sie im Elektro-Pickup von Rivian vor und haben wenig Verständnis für den ruhigen Pulsschlag des Landlebens.
„Alles muss schnell gehen – pronto!“, amüsiert sich der Mann, der in seiner Werkstatt mit größter Geduld kleinste Schrauben und Federn austauscht. Den freundlichen Zweifinger-Gruß für den entgegenkommenden Verkehr sieht er auf der morgendlichen Fahrt von seinem Wohnhaus in einer ländlichen Siedlung zur Arbeit nurmehr selten. Früher kannte und half man sich dort draußen. Neulich hat ein Nachbar tatsächlich den Müll in seine Tonne geworfen.
Berghold will nicht klagen. Schließlich profitiert er von den Neubürgern. Zum Jahresbeginn hat er seine Ladenfläche verkleinert und einen Teil an eine Mode-Boutique vermietet. Das bringt ihm 6000 Dollar im Monat. Doch die Kehrseite des Booms ist ihm überaus bewusst: Seine Angestellten finden kaum eine Wohnung. Freunde sind in den 50 Kilometer entfernten Nachbarort gezogen und pendeln. Der mittlere Hauspreis in Bozeman ist innerhalb eines Jahres um 24 Prozent auf 820.000 Dollar hochgeschnellt. Seine Fahrt in die Stadt führt Berghold jeden Tag an den „Blackwood Groves“ vorbei, einem gigantischen Neubaugebiet, in dem auch Mietwohnungen entstehen. Monatlich 3350 Dollar soll eine 75-Quadratmeter-Bleibe kosten.
„Wir haben verdammtes Glück, dass wir unser Grundstück schon 1992 gekauft haben“, sagt er. Heute könnte sich der passionierte Hobbyjäger ein solches Anwesen mit freiem Blick in die Natur nicht mehr leisten. Der Wert der Immobilie hat sich verzehnfacht. Und sogar das schafft Probleme. In Montana nämlich gibt es keine Umsatzsteuer. Der Bundesstaat finanziert sich alleine durch die Grundsteuer – und die schießt wegen der enormen Wertsteigerungen derzeit vielerorts durch die Decke. Neben der akuten Wohnungsnot sind die Steuern im derzeitigen Wahlkampf um das Amt des US-Präsidenten das beherrschende Thema.
Vor allem alteingesessene Farmer wie Art Mangels bedroht die Entwicklung existenziell. Dabei wirkt das „Big Hole River Retreat“ im Beaverhead County westlich von Bozeman, wo der 77-Jährige mit seiner Frau Nell lebt, wie ein Paradies. Ein kristallklarer Fluss windet sich durch die hügelige, baumreiche Natur mit Bären, Elchen und Bibern. Die Luft ist frisch, einen besseren Ort zum Fischen, Jagen und Entspannen kann man sich kaum vorstellen.
Plötzlich müsse er 35 Prozent mehr Steuern zahlen als vor zwei Jahren, sagt der Farmer
Das hatte auch Mangels gedacht, als er sich nach einem langen, harten Berufsleben vor elf Jahren zur Ruhe setzte, seine Saatkartoffel-Farm verkaufte und mit dem Geld das 29 Hektar große Grundstück erwarb. Gemeinsam mit seinem Sohn baute er mehrere rustikale Holzhütten für Angler und einen Veranstaltungssaal für Hochzeiten neben sein Haus. Das Geschäft lief anfangs gut. Dann kam es Schlag auf Schlag: Erst blieben in der Corona-Pandemie die Gäste weg, anschließend explodierte die Steuerlast. Und nun machen sich die Fische rar.
Mangels, dessen Großeltern einst aus Hannover nach Montana auswanderten, ist ein knorriger Konservativer. Er habe überhaupt nichts gegen Fremde und auch nichts gegen die in dieser Gegend verpönten Kalifornier, beteuert er, um scherzhaft einzuschränken: „Solange sie Nancy Pelosi nicht mitbringen.“ Pelosi, prominente Politikerin der Demokratischen Partei und bis 2023 Sprecherin des Repräsentantenhauses, gilt als Hassfigur der Rechten. Mangels jedenfalls gefällt die Entwicklung der letzten Jahre gar nicht. „Die Reichen in Los Angeles oder Seattle verscherbeln ihre Häuser und kaufen hier wie wild Land – teilweise ohne es gesehen zu haben.“ Dadurch steige sein Grundstückswert enorm. „Das ist nicht fair.“ Denn plötzlich müsse er satte 35 Prozent mehr Steuern zahlen als vor zwei Jahren.
Damit nicht genug: Die Behörden haben großzügig Angellizenzen an die Neubürger vergeben, solange diese die Fische nach dem Fang wieder ins Wasser werfen. Doch der Big Hole River ist lang, und die Lodge von Mangels liegt unten im Tal. „Einige Fische werden auf dem Weg hierher fünf oder sechs Mal herausgezogen“, beklagt sich der Farmer. „Die schwimmen hier nur noch mit dem Bauch nach oben. Den Rest erledigen die Adler.“
Auf die Serie „Yellowstone“ ist Art Mangels deswegen nicht gut zu sprechen: Der von ihr geweckte Traum vieler Zuschauer vom Leben in der unberührten Natur droht für ihn zum Albtraum zu werden. Ursprünglich hatten er und seine Frau geplant, mit den Mieteinnahmen ihre Grundsteuer zu bezahlen. Die Rechnung geht allerdings nicht mehr auf. „Manchmal denke ich: Wenn jemand mit genug Geld kommt, dann verkaufe ich“, sagt er. Sein Blick streift über die Landschaft und seine Sammlung alter Traktoren neben dem Haus. „Aber wohin sollen wir gehen?“, sagt er schließlich.
Serie zur US-Wahl
In einer vierteiligen Serie beleuchtet unser US-Korrespondent Karl Doemens, wie zerrissen die USA vor der Wahl sind. Doemens reist dafür in verschiedene Bundesstaaten und schildert die Stimmungslage und die Befindlichkeiten von Amerikanerinnen und Amerikanern. In Teil vier der Serie geht es zum Abschluss um ein milliardenteures chinesisch-deutsches Batteriewerk, das dem strukturschwachen Nordwesten Michigans Arbeitsplätze und Wohlstand bringen soll.
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