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Missbrauchsgutachten: Papst Franziskus schweigt über die Vorwürfe gegen seinen Vorgänger

Missbrauchsgutachten

Papst Franziskus schweigt über die Vorwürfe gegen seinen Vorgänger

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    Amtierender und emeritierter Papst: Franziskus (links) und Benedikt XVI. kurz vor Weihnachten 2018 im Vatikan-Kloster Mater Ecclesiae.
    Amtierender und emeritierter Papst: Franziskus (links) und Benedikt XVI. kurz vor Weihnachten 2018 im Vatikan-Kloster Mater Ecclesiae. Foto: Vatican Media/dpa

    Papst Franziskus hat am Freitag im Vatikan die Mitarbeiter der Glaubenskongregation zur Audienz empfangen. Über den Paukenschlag aus München, der am Vortag bis nach Rom zu hören war, verlor er dabei kein Wort – erinnerte aber daran, dass er erst kürzlich das kirchliche Strafrecht habe überarbeiten lassen, um „die Effektivität der Justiz“ zu erhöhen.

    Unkommentiert blieb das Missbrauchsgutachten der Münchner Kanzlei Westphal Spilker Wastl für das Erzbistum München und Freising dennoch nicht – wie sollte es auch, hatte es doch unter anderem dem emeritierten Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) Fehlverhalten in vier Fällen zur Last gelegt. Vatikansprecher Matteo Bruni erklärte, der Heilige Stuhl sehe sich verpflichtet, dem Gutachten „gebührende Aufmerksamkeit“ zukommen zu lassen. Man werde in den folgenden Tagen „Einsicht in den Text nehmen und in der Lage sein, ihn im Einzelnen zu prüfen“.

    Benedikt erneuere „seine persönliche Nähe und sein Gebet für alle Opfer“, erklärt dessen Privatsekretär Georg Gänswein

    Studiert wurde das insgesamt fast 1900-seitige Gutachten am Freitag offenkundig bereits in der deutschen Abteilung des Staatssekretariats – sowie im Vatikan-Kloster Mater Ecclesiae, auf der Rückseite des Petersdoms. Dort lebt Benedikt.

    Der 94-Jährige werde, so hatte es dessen Privatsekretär, Erzbischof Georg Gänswein, angekündigt, „den sehr umfangreichen Text mit der nötigen Sorgfalt studieren und prüfen“. Der emeritierte Papst drücke seine Scham und sein Bedauern aus „über den von Klerikern an Minderjährigen verübten Missbrauch“ und erneuere „seine persönliche Nähe und sein Gebet für alle Opfer“.

    Das klang ganz anders, als die 82-seitige Stellungnahme, die Benedikt den Münchner Gutachtern zukommen hatte lassen. Die befanden, dass sich seine Antworten auf die Vorwürfe, mit denen sie ihn konfrontiert hatten, „wie eine Verteidigungsschrift“ läsen – mit der nur das zugegeben werden solle, was auch anhand der Akten eindeutig belegbar sei. In allen ihm vorgehaltenen Fällen bestreitet Benedikt seine Verantwortung.

    Es wird um die Deutungshoheit gerungen - und damit um das öffentliche Bild von Benedikt

    Bereits im Vorfeld der Gutachtenvorstellung am Donnerstag war es – nach Enthüllungen in Medien – zu einem Ringen um die Deutungshoheit im Fall des 1980 aus dem Bistum Essen ins Erzbistum München und Freising versetzten Missbrauchstäters Peter H. gekommen. Renommierte Kirchenrechtler attestierten dem emeritierten Papst, der damals Münchner Erzbischof war, ein klares Versagen. Unter anderem sein Privatsekretär Gänswein bestritt dagegen kategorisch, dass Benedikt einst Kenntnis von der Vorgeschichte des Priesters „zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufnahme“ gehabt habe.

    Die Münchner Gutachter sehen das vollkommen anders und weisen unter anderem auf das Protokoll einer Ordinariatssitzung im Januar 1980 hin, bei der „mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ über Peter H. im Beisein Ratzingers gesprochen worden sei. Der erklärte jedoch, er habe an ihr „nicht teilgenommen“.

    Kirchenrechtler Thomas Schüller wirft dem emeritierten Papst eine "dreifache Lüge" vor

    Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller sprach gegenüber dem Evangelischen Pressedienst von einer „dreifachen Lüge“: Ratzinger habe die Vorgeschichte des Priesters – der noch jahrzehntelang Kinder missbrauchte – gekannt, mitentschieden, dass er ohne Gefahrenauflagen in der Seelsorge eingesetzt werde, und er sei in der entscheidenden Sitzung der Ordinariatskonferenz anwesend gewesen.

    Im Sitzungsprotokoll heißt es: „Der Herr Kardinal berichtet über die Trauerfeier in Berlin aus Anlass des Todes von Kardinal Bengsch und informiert über den letzten Versuch von Bischof Moser und Papst Johannes Paul II., den Fall Professor Küng im Guten zu regeln. Er berichtet ferner über das Gespräch, das Papst Johannes Paul II. am 28. Dezember 1979 mit einigen deutschen Bischöfen im Fall Prof. Küng geführt hat.“

    Wer anders als Kardinal Ratzinger/Papst Benedikt XVI., fragen die Gutachter, sollte in der Ordinariatssitzung über diese, auf höchster Ebene behandelten kirchenpolitisch brisanten Themen Bericht erstattet haben? Dem in Tübingen lehrenden Theologieprofessor Küng sollte damals die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen werden.

    Brisante Passagen aus dem Münchner Missbrauchsgutachten

    Aus Sicht der Gutachter liegt es nahe, dass Ratzinger nicht bereit ist, „das eigene Handeln und die eigene Rolle selbstkritisch zu reflektieren und zumindest Mitverantwortung für Unzulänglichkeiten zu übernehmen“. Er sei Teil einer „Kultur des Wegsehens und Verharmlosens“.

    In Deutschland erschüttert die Öffentlichkeit seit Donnerstag zudem, wie Benedikt sich zu rechtfertigen versucht. Etwa im Fall eines einschlägig verurteilten Priesters, gegen den später auch ein Strafbefehl wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und exhibitionistischen Handlungen erging.

    Selbst wenn er, so Benedikt, Kenntnis vom Strafbefehl gehabt hätte, sei zu berücksichtigen, dass der Priester als Exhibitionist und nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn aufgefallen sei. Es sei nicht zu Berührungen gekommen, und der Priester habe bei seinen Handlungen als „anonymer Privatmann“ gehandelt. Als Priester sei er nicht erkennbar gewesen. Wie andere Gutachten zeigt auch dieses deutlich, wie Kirchenverantwortlichen Täter- vor Opferschutz ging. Und wie dafür das Geschehene verharmlost und vertuscht wurde.

    Franziskus, der für seinen Vorgänger immer nur gute Worte übrig hat, stellt das Gutachten ebenfalls vor Probleme – wohlwissend, dass Benedikt und er von bestimmten Kirchenkreisen als Antipoden verstanden werden in einem innerkirchlichen Richtungskampf zwischen Bewahren und Reformieren. Benedikt steht hier für das katholisch-konservative Lager, auf Franziskus hatten sich die Hoffnungen progressiver Katholiken gerichtet.

    Ist es vorstellbar, dass Papst Franziskus seinen Vorgänger öffentlich kritisiert?

    Schwer vorstellbar, dass Franziskus Benedikt öffentlich kritisiert – es würde die bestehenden Polarisierungen noch verstärken. Weiteres Problem: Mit der Veröffentlichung des Münchner Gutachtens ist die Frage in der Welt, wie glaubwürdig selbst ein Papst überhaupt noch ist.

    Was Benedikt betrifft, so werden ihn seine Verehrerinnen und Verehrer – weitgehend ungeachtet der Erkenntnisse des Gutachtens – entschieden verteidigen. Wenige Tage vor dessen Vorstellung argumentierte Die Tagespost, eine katholisch-konservativ ausgerichtete Publikation: Ratzinger sei in einer Zeit (1977 bis 1982) Erzbischof gewesen, in der noch kaum jemand für das Thema Missbrauch sensibilisiert gewesen sei, die Sexualwissenschaft noch alles verharmlost habe und die Grünen über die Entkriminalisierung der Pädophilie diskutiert hätten. Manche Journalisten hofften darauf, „ihm irgendwelche Fälle ‘anhängen’ zu können“. Die Münchner Kanzlei, sei zu befürchten, wolle „Abschüsse“ vorweisen.

    Steht wegen seiner Aussagen immer wieder massiv in der Kritik: Kardinal Gerhard Ludwig Müller.
    Steht wegen seiner Aussagen immer wieder massiv in der Kritik: Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Foto: Andreas Arnold, dpa

    Diese Argumentation enthielt im Wesentlichen schon fast alles, was auch künftig zu Benedikts Verteidigung angeführt werden dürfte. Fast alles: Denn man kann es sich auch einfacher machen, wie das Beispiel des wegen der Verbreitung von Verschwörungserzählungen viel kritisierten deutschen Kurienkardinals Gerhard Ludwig Müller belegt.

    Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Joseph Ratzinger soll geschadet werden

    Der sagte der italienischen Zeitung Corriere della Seraüber das Gutachten: „Sehen Sie, ich habe es nicht gelesen, aber für mich ist klar, dass er als Erzbischof Ratzinger nicht wissentlich etwas falsch gemacht hat.“ In Deutschland, und nicht nur dort, sei man daran interessiert, Joseph Ratzinger zu schaden. Müller war einer von dessen Nachfolgern als Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan und ist inzwischen Richter am höchsten Kirchengericht.

    Ob und wie sich Benedikt äußern wird, ist ungewiss. Der Druck auf ihn ist groß und kommt sogar von einem Mitbruder. Franz-Josef Overbeck, Essener Bischof, sagte im ZDF: Man sehe deutlich, „dass Verantwortung übernommen werden muss – und Verantwortung ist immer personal“. Dazu gehöre, „dass sich auch der Vatikan, dass sich auch Papst Benedikt dazu verhält“.

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