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Missbrauch in der Kirche: EKD-Chefin zu Missbrauchs-Studie: "Eklatantes Versagen"

Missbrauch in der Kirche

EKD-Chefin zu Missbrauchs-Studie: "Eklatantes Versagen"

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    Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD.
    Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD. Foto: Julian Stratenschulte, dpa

    Bischöfin Kirsten Fehrs, die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), tritt am Donnerstag in Hannover im weißen Blazer ans Mikrofon. Eine eigens eingerichtete Internetseite mit einem Livestream ist da längst zusammengebrochen. Das Interesse an der unabhängigen Missbrauchsstudie, die erstmals umfassend die Problematik der sexualisierten Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie untersucht, ist groß. Denn bislang herrschte Unklarheit über Ausmaß und spezifische Risikofaktoren, die dort Missbrauch begünstigen. Anders als in der katholischen Kirche, die vor fünf Jahren eine vergleichbare Studie vorlegte, vergingen Jahre, in denen Betroffene an der Ernsthaftigkeit der Aufarbeitungsbeteuerungen Kirchenverantwortlicher zweifeln mussten.

    Fehrs hat ihre Worte sorgfältig gewählt, sie sagt: "Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut." Es erschüttere die Grundfesten von Kirche und Diakonie, mit welch perfider und brutaler Gewalt Menschen unsägliches Unrecht angetan worden sei. Man spreche hier über "täterschützende Strukturen", ein Wegsehen, ein "eklatantes Versagen unserer Kirche und Diakonie, betroffenen Menschen gerecht zu werden, Punktum". Sie sei erschüttert, aber nicht fassungslos. Wer heute aus allen Wolken falle, müsse schließlich in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten die Augen vor der Realität verschlossen haben. Die Institution habe sich an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht, Fehrs bittet um Entschuldigung. Man müsse weitere Veränderungsmaßnahmen auf den Weg bringen. Welche? Auch auf Nachfrage kann sie nichts Konkretes nennen.

    Missbrauchsbetroffene machen schwere Vorwürfe: "Man gibt sich erschüttert, aber was ändert sich?"

    Danach sprechen mit Detlev Zander und Katharina Kracht zwei Missbrauchsbetroffene. Was sie sagen, lässt Fehrs' Worte seltsam schal erscheinen. Sie loben, dass es die Studie endlich gibt und dass sie einbezogen wurden. Doch so eindringlich, wie nur sie es vermögen, halten sie der evangelischen Kirche, insbesondere den20 Landeskirchen, einen Spiegel vor, der ein hässliches Bild zeigt. Zander und Kracht sparen nicht mit Kritik. Und es ist wie in der katholischen Kirche: In erster Linie ist es dem Mut und der Hartnäckigkeit von Betroffenen zu verdanken, dass es in Sachen Aufklärung und Aufarbeitung voranging.

    Detlev Zander, hier auf einem Bild von 2015, kämpft seit Langem für Betroffene sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche. Er wurde einst in einem Kinderheim der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal in Baden-Württemberg misshandelt und missbraucht.
    Detlev Zander, hier auf einem Bild von 2015, kämpft seit Langem für Betroffene sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche. Er wurde einst in einem Kinderheim der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal in Baden-Württemberg misshandelt und missbraucht. Foto: Armin Weigel, dpa

    Detlev Zander, der in einem Kinderheim der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal in Baden-Württemberg gedemütigt, misshandelt und schwer sexuell missbraucht wurde, sagt, es sei ein "schwarzer Tag", es müssten "sämtliche Glocken läuten" und "die Fahnen auf halbmast stehen". Der Umgang der evangelischen Kirche mit Betroffenen sei unerträglich und verletzend gewesen. "Jetzt geht es darum, dass evangelische Kirche und Diakonie Verantwortung übernehmen." Das habe man schon hunderttausendmal gehört, doch wer jetzt den Schuss noch nicht gehört habe, müsse sich fragen, ob er in Kirche oder Diakonie richtig am Platz sei. Ein Weiter-so, sagt der Sprecher der Betroffenen sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche, werde es nicht mehr geben. Zander fordert unter anderem eine übergeordnete Stelle in der Kirche, die Standards zu einem einheitlichen Umgang mit Missbrauchsfällen schaffe. Es könne nicht sein, dass jede Landeskirche anders vorgehe. 

    Katharina Kracht ist den Tränen nahe. Sie war von einem Pastor in Nenndorf bei Hamburg schwer sexuell missbraucht worden und verglich den kirchlichen Umgang mit ihr einmal mit einem Laufen gegen Gummiwände. Sie fordert eine "Verantwortungsübernahme des Staates", Betroffene bräuchten das "Recht auf Aufarbeitung". Immer wieder zeige sich, die Kirche sei für die Betroffenen kein Gegenüber. "Man gibt sich erschüttert, aber was ändert sich?" Kracht kritisiert: "Die Landeskirchen verhindern Aufarbeitung." Und sie mahnt an, dass die Zahlen der "ForuM"-Studie über Missbrauchs(verdachts)fälle nicht den Blick auf die schweren Schicksale, die dahinterstünden, überlagern dürften. "Lassen Sie es nicht zu, dass die EKD noch mehr Zeit vertrödelt", appelliert sie an die anwesenden Journalistinnen und Journalisten.

    Der Projektleiter der Studie spricht von der "Spitze der Spitze des Eisbergs"

    Doch die Zahlen sind ein Problem – und haben das Zeug dazu, das beabsichtigte Signal der evangelischen Kirche, verstanden zu haben, ins Gegenteil zu verkehren. Mal um Mal weisen die mit der Studie beauftragten Forschenden auf die beschränkte Aussagekraft ihrer quantitativen Ergebnisse hin. In Anspielung auf ein berühmtes Zitat seines Forscherkollegen Harald Dreßing, der bereits im Auftrag der katholischen Kirche zum Thema Missbrauch forschte, spricht Martin Wazlawik, Professor an der Hochschule Hannover und Projektleiter, von der "Spitze der Spitze des Eisbergs". Er nennt die Zahlen von 1259 Beschuldigten und 2225 Fällen sexualisierter Gewalt. Das große Aber: Die Zahlen stammen weit überwiegend aus der Durchsicht von Disziplinarakten Beschuldigter, die die Landeskirchen auswerteten und den Forschenden übermittelten. Bis auf eine Landeskirche sind – im Unterschied zur "MHG"-Studie für die katholische Kirche – keine Personalakten herangezogen worden, deren Daten deutlich umfangreicher sind. "Die Reduktion auf

    Dreßing ergänzt auf Nachfrage, dass sich die evangelische Kirche vertraglich zu einer systematischen Personalaktenanalyse verpflichtet habe. "Dieses Forschungsvorhaben konnten wir nicht vollständig umsetzen", sagt er und betont: Das sei nicht das Versagen der Forschenden, sondern habe an der "schleppenden Zuarbeit der Landeskirchen" gelegen. Dies habe zu einer erheblichen zeitlichen Verzögerung geführt, ebenfalls die Übermittlung "qualitativ unzureichender Daten". Irgendwann sei man, so Dreßing, an einem Punkt angelangt, an dem man sich überlegt habe: "Was können wir in der verbleibenden Zeit noch maximal an Informationen herausholen?" Dann habe man gesagt, man beschränke sich auf die Disziplinarakten von Pfarrern. "Das ist aus der Not geboren." Die katholische Kirche habe das besser hinbekommen. 

    Auf die Frage nach dem wahrscheinlichen, hochgerechneten Ausmaß des Missbrauchs antwortet Dreßing: Dann hätte man 3497 Beschuldigte, davon 1402 Pfarrpersonen, und 9355 Fälle sexualisierter Gewalt. Er betont, dass diese Zahlen allerdings höchst spekulativ seien.

    Warum keine Auswertung von Personalakten? Bayerns Landesbischof Christian Kopp nimmt Stellung

    Auf Anfrage unserer Redaktion erklärt der bayerische Landesbischof Christian Kopp: "Es ist bedauerlich, dass es für eine Landeskirche wie unsere nicht einfach war, Personalakten seit 1945 systematisch durchzusehen. Wir haben allein aktuell fast 30.000 Mitarbeitende beschäftigt. Dafür hätten wir eine wesentlich längere Analysezeit gebraucht, die wir in der für diese Studie zur Verfügung stehenden Zeit nicht geschafft hätten." Das bleibe eine Aufgabe für die Zukunft. Aus seiner Sicht, sagt Kopp, sei die Datenbasis aus Meldungen an die eingerichtete Melde- und Ansprechstelle für sexualisierte Gewalt und "die sehr intensive Durchsicht der Disziplinar-Personalakten ein guter Anfang für die Dokumentation von Fallzahlen". Ihm sei jetzt wichtig, dass in der Diskussion über die Studie die Punkte zu den institutionellen Risiken, die notwendigen Konsequenzen für die Aufarbeitung und die Folgen für den Umgang als evangelische Kirche mit diesem so wichtigen Thema in den Fokus rückten. Vor mehr als einer Woche hatte die evangelische Landeskirche in Bayern die Zahlen veröffentlicht, die sie den Forschenden gemeldet hatte: 129 beschuldigte Personen und 226 Taten.

    Immer wieder war Kritik an der evangelischen Kirche geübt worden, warum sie nicht schon früher eine umfassende unabhängige und bundesweite Studie beauftragt habe. Die katholische Kirche kann seit 2018 die sogenannte MHG-Studie vorweisen, die damals für den Zeitraum zwischen 1946 und 2014 auf 1670 beschuldigte katholische Kleriker kam, die insgesamt 3677 Kinder und Jugendliche missbraucht hätten. Dies sei "nur die Spitze eines Eisbergs", sagte mit Harald Dreßing einer der Mitautoren. Das Bistum Augsburg nannte für seinen Bereich die Zahl von 85 Beschuldigten und 164 Opfern.

    Kurz nach Veröffentlichung der MHG-Studie erklärte der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und bayerische Landesbischof, Heinrich Bedford-Strohm, aufgrund des föderalen Aufbaus als Gemeinschaft der Landeskirchen sei eine Erhebung ungleich schwieriger als in der katholischen Kirche. Fünf Jahre später, im vergangenen Oktober, widersprach er vehement dem "Eindruck, dass wir untätig gewesen wären". Was die ForuM-Studie angehe, habe er stets erklärt: "Gründlichkeit vor Schnelligkeit". Seine Nachfolgerin an der Spitze des EKD-Rates, Annette Kurschus, sagte: "Wir wollen, dass Aufklärung auf allen Ebenen bis ins Kleinste betrieben wird." Sie trat im vergangenen November wegen Vertuschungsvorwürfen zurück.

    Den Tränen nahe: Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes, spricht bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der "ForuM"-Studie.
    Den Tränen nahe: Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes, spricht bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der "ForuM"-Studie. Foto: Julian Stratenschulte, dpa

    Aufklärung bis ins Kleinste? Gründlichkeit? Heinrich Bedford-Strohm war von 2014 bis in den Herbst 2021 Ratsvorsitzender, aus Betroffenensicht ist er einer der Hauptverantwortlichen für ein Versagen von Aufklärung und Aufarbeitung. Forschende machen dafür unter anderem einen "Harmoniezwang" und eine fehlende Konfliktkultur" in der evangelischen Kirche aus. Professor Martin Wazlawik kommt zu dem verheerenden Befund, dass die öffentliche Thematisierung der Missbrauchsproblematik in der EKD sich im Grunde erst seit 2018 finde. Erst seit damals sei öffentliches Sprechen über sexualisierte Gewalt als eigenes Problem der evangelischen Kirche dokumentiert.

    Vorwürfe auch gegen den früheren EKD-Chef und bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

    Die Betroffene Katharina Kracht erinnert an das Interview, das Heinrich Bedford-Strohm unserer Redaktion im vergangenen Oktober gab. Er hätte sich gewünscht, zitiert sie ihn sinngemäß, dass das Missbrauchsthema in der EKD sichtbarer geworden wäre. Für sie sei das typisch. Da stelle sich jemand hin, der jahrelang Ratsvorsitzender gewesen sei – das Thema jedoch erst 2021 zur Sprache gebracht hätte. Axel Piper, evangelisch-lutherischer Regionalbischof im Kirchenkreis Augsburg und Schwaben, nimmt im Gespräch mit unserer Redaktion Bedford-Strohm am Nachmittag in Schutz. "Solange ich im Landeskirchenrat bin, gab es kaum eine Sitzung, in der die Problematik nicht thematisiert wurde – und zwar gerade von Heinrich Bedford-Strohm. Er hat zum Beispiel die Einrichtung einer Ansprechstelle intensiv vorangebracht. Ich war erstaunt über die Unterstellung, dass er erst kurz vor seinem Abgang als Ratsvorsitzender sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt beschäftigt habe. Da tut man ihm Unrecht."

    Auch für Axel Piper ist dieser Donnerstag ein "schwarzer Tag". Er werde die "ForuM"-Studie jetzt sehr genau lesen. Genaue Zahlen über Beschuldigte und Fälle in seinem Kirchenkreis wird er darin nicht finden. Er sagt, dass es einen "radikalen Blickwechsel hin zu Betroffenen" brauche.

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