Die Staaten der Europäischen Union haben mit dem Kompromiss zum Asylrecht einen jahrelangen Streit beigelegt, eine deutsche Regierungspartei aber in eine tiefe Krise gestürzt. Die Grünen zerfallen auf offener Bühne. Zwei Fraktionen stehen sich gegenüber – linker Flügel gegen Realos: Die einen lehnen den schärferen Kurs gegen Flüchtlinge ab, die anderen tragen ihn aus Sorge um die Einheit Europas zähneknirschend mit. "Wer meint, dieser Kompromiss ist nicht akzeptabel, der nimmt für die Zukunft in Kauf, dass niemand mehr verteilt wird", sagte Außenministerin Annalena Baerbock während ihrer Reise durch Südamerika. Sie ist gemeinsam mit Wirtschaftsminister Robert Habeck die Anführerin der Realos.
Nach der Verständigung der EU-Länder sollen Flüchtlinge fairer als bisher verteilt werden. Vorgesehen ist auch ein deutlich härterer Umgang mit Migranten aus Ländern, die als relativ sicher gelten. Zudem soll es mehr Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedstaaten wie Italien an den EU-Außengrenzen geben. Sie soll künftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein. Staaten, die keine Schutzsuchenden aufnehmen wollen, sollen im Gegenzug an die Partnerländer zahlen, die Migranten aufnehmen
EU-Kompromiss sehr problematisch und ein Fehler
Baerbock versuchte stundenlang per Telefon und Video-Schalte von Lateinamerika aus, die blanke Wut zu beruhigen. Einhelliger Tenor: Es ging heftig zu in der Aussprache. Die Entscheidung rüttelt am Grundverständnis der Grünen. Bundesfamilienministerin Lisa Paus bezeichnete das Ergebnis als "sehr problematisch".
Ex-Fraktionschef Toni Hofreiter rief die Realos auf, ihre Zustimmung zur Einschränkung des Asylrechts zurückzuziehen. Die Verschärfung sei ein Fehler. "Und ich erwarte, dass der nicht verteidigt wird, sondern dass die gesamte Grünen-Spitze, einschließlich der Minister, jetzt alles dafür tut, dass die Reform in der Form nicht kommt", sagte er dem Stern. Hofreiter forderte damit nicht weniger als den Aufstand der Grünen-Minister im Kabinett.
Die Spaltung der Partei entzweit auch die Doppelspitzen von Partei und Fraktion. Parteichef Omid Nouripour ist dafür, Parteichefin Ricarda Lang dagegen. Die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann unterstützt die Einigung, ihre Co-Vorsitzende Katharina Dröge lehnt sie ab. Derart zerrissen war die Partei das letzte Mal, als Joschka Fischer 1999 die deutsche Beteiligung am Nato-Einsatz im Kosovo durchsetzte. Der linke Flügel ärgert sich besonders darüber, dass Flüchtlingsfamilien mit Kindern nicht pauschal von der Asyl-Schnellprüfung in Lagern an den EU-Außengrenzen ausgenommen werden sollen.
"Das ist ein historischer Erfolg"
Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD konnte sich in diesem Punkt nicht gegen ihre EU-Amtskollegen behaupten, trug aber schlussendlich die Einigung mit und feierte sie sogar. "Das ist ein historischer Erfolg – für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten", erklärte die Sozialdemokratin. Faeser will im Herbst bei den Landtagswahlen in Hessen den Posten der Ministerpräsidentin erobern. Kanzlersprecher Steffen Hebestreit räumte hingegen ein, dass der Migrationskompromiss für die Bundesregierung kein einfacher sei. "Das ist kein kleiner Schritt, aber (...) es gab auch manche bittere Pille zu schlucken", sagte er.
Ob die Grünen jetzt die Rolle der FDP einnehmen und auf Opposition in der Regierung schalten, ist noch offen. Die Liberalen hatten zuletzt massiv Stimmung gegen Habecks Heizungsgesetz gemacht. Für die Opposition ist das Zerwürfnis bei den Grünen ein gefundenes Fressen. "Dass die Grünen bereits einen ersten Schritt zur Eindämmung der illegalen Migration empört kritisieren und daraus eine Koalitionsfrage machen, zeigt, in welchem Wolkenkuckucksheim diese Partei in Migrationsfragen lebt", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, unserer Redaktion.
Er verlangte, bei der Bekämpfung illegaler Migration nicht zu warten, bis die neue EU-Asylpolitik in die Praxis umgesetzt wird. "Wir brauchen deshalb auch nationale Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Migration, und zwar umgehend", meinte Frei. Nächste Woche kommen Bund und Länder ein zweites Mal zum Thema Migration zusammen. Die erste Runde vor vier Wochen hatte kaum Fortschritte gebracht. Städte und Gemeinden klagen, dass sie die hohe Zahl der Schutzsuchenden überfordere.