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Migrationsexperte im Interview: Modell zur Zuwanderung funktioniert schlecht

Interview

Daniel Thym: „Wir können der Migration mit dem bestehenden Instrumentarium nicht mehr beikommen“

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    Daniel Thym ist einer der profiliertesten deutschen Migrationsexperten.
    Daniel Thym ist einer der profiliertesten deutschen Migrationsexperten. Foto: Inka Reiter, Universität Konstanz

    Herr Thym, Sie waren kürzlich für einen Forschungsaufenthalt in den USA, genauer gesagt in der Grenzregion nahe Mexiko. Was konnten Sie dort über Migration lernen?
    DANIEL THYM: Ich war in San Diego, wo eine Mauer steht, die aber in den Bergen aufhört. Da laufen nachts Migranten mehrere Kilometer weit über die Grenze, nachdem sie viel Geld an Schlepper gezahlt haben. Ich habe ein Camp besucht, in dem Nichtregierungsorganisationen die Erstversorgung übernehmen. Als ich dort ankam, war ich völlig perplex.

    Warum?
    THYM: Ich habe Türken getroffen. Kurdische Türken. Einer sprach Englisch, den habe ich gefragt, warum er nicht nach Europa geht. Er sagte, das sei so kompliziert.

    Er nahm stattdessen den ungleich weiteren Weg in die USA in Kauf?
    THYM: Genau. Das ist aber einige Monate her, inzwischen hat sich die Situation eher umgekehrt. Zu den wichtigsten Herkunftsländern von Asylbewerbern in Deutschland gehören plötzlich Venezuela und Kolumbien – also Länder, aus denen die Menschen bisher in die USA gegangen sind. Ich denke, das steht für ein allgemeines Phänomen: Wir erleben seit einigen Jahren eine massive Diversifizierung der Herkunftsländer, Migration ist nun etwas wirklich Globales. In Italien kommen inzwischen viele Menschen aus Bangladesch und Pakistan an. Das ist ein großer Unterschied zu den 1990er-Jahren, als der größte Teil der Asylbewerber in Deutschland aus Ex-Jugoslawien, aus Rumänien und Bulgarien kam.

    Was bedeutet das für die Politik?
    THYM: Selbst wenn es politisch gelingt, eine Migrationsbewegung in den Griff zu bekommen, geht es dafür an anderer Stelle los. Das ist eine Daueraufgabe, der man mit dem bestehenden Instrumentarium nicht beikommen kann. Viele haben die Illusion, es reiche aus, legale Wege für Arbeitskräfte, vielleicht auch für Flüchtlinge bereitzustellen – und dann kämen weniger Menschen über das Asylsystem. Das wird aber nicht funktionieren, die Nachfrage ist viel größer als das Angebot. Es müssen also strategische Wege überlegt werden, wie das zusammengebracht werden kann. Das ist durchaus möglich.

    Was schlagen Sie vor?
    THYM: Es braucht im großen Stil legale Zugangswege, die dann strategisch eingesetzt werden, damit die Herkunfts- und Transitländer kooperieren. Also: Wir lassen einige Leute legal kommen, Arbeitskräfte, auch Flüchtlinge. Im Gegenzug nehmen die Herkunftsländer irregulär eingereiste Menschen leichter zurück. Es wird die Situation entlang der Reiserouten verbessert, dafür muss die Außengrenze strenger kontrolliert werden. Das gehört zwingend dazu, weil legale Zugangswege nicht dazu führen, dass dort niemand mehr ankommt. Wir dürfen uns auch nicht der Illusion hingeben, die Asylmigration könnte unsere Arbeitsmarktprobleme lösen. Es kommen zwar hochmotivierte Menschen, die fehlende Abschlüsse in Deutschland nachholen. Aber zum Beispiel unter den erwachsenen Syrern, die 2023 über das Asylsystem neu eingereist sind, haben 36 Prozent maximal einen Grundschulabschluss – die würden nicht über die Erwerbsmigration kommen.

    Sie sagen also: Es geht nicht ohne eine gewisse Härte?
    THYM: Es geht letztlich um die harte Einsicht, dass wir ein reicher Kontinent sind, der den Reichtum nicht mit allen teilen will. Was aber nicht heißt, dass keine legale Migration für Flüchtlinge und Arbeitskräfte organisiert werden sollte.

    Sie plädieren für Lösungen der Mitte.
    THYM: Wir müssen uns bewusst machen, dass wir heute schon Migration hart steuern. Gerade in der Nebensaison kann man Flugtickets aus Nordafrika oder der Türkei nach Deutschland für unter hundert Euro kaufen. Warum zahlen Menschen dann viel mehr Geld für eine lebensgefährliche Überfahrt, um danach irgendwo in Süditalien oder auf einer griechischen Insel unter schlechten Bedingungen zu leben? Weil wir ihnen verbieten, ohne ein Visum - das wir ihnen ohnehin nicht geben - ein Flugzeug hierher zu besteigen. Diese Steuerung findet also weit weg vom Inland statt, weil wir uns diese Härte nicht eingestehen wollen. Würden wir uns das eingestehen, könnten wir dieses ganze System so neu aufstellen, dass auch andere davon profitieren als bisher. Aktuell sind es meistens junge Männer, die in dem harten System bestehen können. 

    Im Wahlkampf war Migration ein emotionales Thema, auch in den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD wird es um Zurückweisungen an der Grenze gehen. Was ist davon zu halten?
    THYM: Die Vorstellung, man könnte dauerhaft – ich sage bewusst dauerhaft, kurzfristig mag es einen gewissen Effekt geben – die Migration durch Zurückweisungen steuern, ergibt keinen Sinn. Dafür gibt es gerade hier in Süddeutschland zu viele Schleichwege. Das heißt, nur eine europäische Lösung kann nachhaltig sein. Die europäische Reform, die ab kommendem Jahr greifen soll, geht zwar in die richtige Richtung, wird viele Probleme aber nicht lösen.

    Bundespolizisten kontrollieren den Einreiseverkehr in einem Zug aus Prag in Richtung München.
    Bundespolizisten kontrollieren den Einreiseverkehr in einem Zug aus Prag in Richtung München. Foto: Daniel Karmann, dpa

    Was heißt das für die Koalitionsverhandlungen?
    THYM: Mein Eindruck ist, dass CDU und CSU nicht mehr an diese europäische Lösung glauben und nun mit der Brechstange den Hebel umlegen wollen. Klar ist aber auch, dass im Sondierungspapier nur kurzfristige Maßnahmen stehen. Mein Wunsch für die Koalitionsverhandlungen wäre, dass die Zeit, die durch kurzfristige Maßnahmen erkauft werden kann, produktiv genutzt wird. Dass es ein funktionierendes System gibt, wenn die nächste Migrationsbewegung losgeht. Das haben wir bisher nicht.

    Die Union will Zurückweisungen zwar mit den Nachbarländern abstimmen, diese - anders als die SPD - im Zweifel aber auch im Alleingang durchsetzen. Was würde das bedeuten?
    THYM: Das wäre hochriskant. Tatsächlich kann es große Probleme geben, wenn zum Beispiel die Deutschen die Migranten von der einen Seite der Brücke zurückschicken und die Österreicher auf der anderen Seite stehen und sie nicht wieder einreisen lassen. Das wäre ein Fiasko. Das wird man verhindern müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gerichte so etwas akzeptieren. Es würde auch viel europapolitisches Porzellan zerschlagen, das wir unbedingt brauchen.

    Die Leidtragenden wären einmal mehr die Staaten mit Außengrenzen.
    THYM: Länder wie Italien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Polen sind schon seit Langem für eine restriktivere Asylpolitik, mit denen könnte man sich einigen. Dafür müssen sie aber eingebunden werden.

    Sie schlagen als Kompromiss selektive Zurückweisungen vor, zum Beispiel einige Wochen lang Männer bestimmter Altersgruppen an der Grenze abzuweisen...
    THYM: Dann wären Gerichte wohl eher bereit, das jedenfalls vorübergehend zu akzeptieren.

    Ist so etwas denn mit unseren Gleichbehandlungsgrundsätzen vereinbar?
    THYM: Man kann das auch umgekehrt wenden: Wir haben eine Kinderrechtskonvention, die sagt, dass die Interessen von Kindern ein vorrangiger Gesichtspunkt für jede Politik sein müssen. Das heißt, es gibt grundrechtliche Argumente, speziell unbegleitete Minderjährige oder Familien mit Kindern anders zu behandeln als junge und gesunde Männer. Wir machen solche Unterscheidungen schon heute. Wobei natürlich auch junge Männer verfolgt sein können!

    Das Buch „Migration steuern. Eine Anleitung für das Hier und Jetzt“ ist am 20. März bei C.H. Beck erschienen. Es hat 237 Seiten und kostet 16 Euro.
    Das Buch „Migration steuern. Eine Anleitung für das Hier und Jetzt“ ist am 20. März bei C.H. Beck erschienen. Es hat 237 Seiten und kostet 16 Euro. Foto: Verlag

    Zur Person

    Daniel Thym, 52, ist Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Uni Konstanz. Der Migrationsexperte ist beteiligt am interdisziplinären Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Er berät in ausländerrechtlichen Fragen die Union.

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