Sie überqueren das Mittelmeer in der Hoffnung auf ein besseres Leben, und das in großer Zahl: Flüchtlinge aus Syrien machen seit Jahren die größte Gruppe unter jenen aus, die in Deutschland einen Antrag auf Asyl stellen – ein Ende der Fluchtbewegung scheint nicht in Sicht. Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Nürnberg zeigen: Etwa drei Fünftel der seit Jahresbeginn gestellten Asylanträge entfielen auf die drei Hauptherkunftsländer Syrien, Afghanistan und die Türkei. Allein aus Syrien kamen 14.024 Erstantragsteller.
Die Chance, dass sie in Deutschland bleiben dürfen, ist für Syrerinnen und Syrer vergleichsweise hoch. Mehr als 88 Prozent der Anträge aus Syrien wurden im vergangenen Jahr positiv beschieden – das heißt, es wurde ein Schutzstatus gewährt. Zum Vergleich: Bei den Antragstellern aus Afghanistan lag die Quote bei 76,5 Prozent. Nur 13 Prozent der Asylsuchenden aus der Türkei erhielten im Jahr 2023 einen Schutzstatus. Im Schnitt lag die Schutzquote über alle Herkunftsländer bei 51,7 Prozent – fast die Hälfte der Asylbewerber werden also abgelehnt. „Maßgeblich ist die Gefahr, die bei einer möglichen Rückkehr droht“, so eine Sprecherin des Bamf gegenüber unserer Redaktion. „Dementsprechend ist auch die hohe Gesamtschutzquote für syrische Asylantragstellende auf den von Ihnen angesprochenen seit Frühjahr 2011 anhaltenden Konflikt zurückzuführen.“
Aufstände gegen Baschar al-Assad begannen am 15. März 2011
Doch warum kommen überhaupt nach wie vor so viele Menschen aus Syrien nach Deutschland? „Die Syrien-Krise bleibt eine der größten Vertreibungskrisen der Welt mit rund zwölf Millionen Menschen, die ihre Heimat verloren haben“, sagt Peter Ruhenstroth-Bauer, Nationaler Direktor der UNO-Flüchtlingshilfe. Der Krieg, von dem viele Menschen annehmen, er sei längst beendet, geht in diesen Tagen in sein 14. Jahr. Am 15. März 2011 war es in Syrien im Zuge der arabischen Aufstände erstmals zu Protesten gegen Präsident Baschar al-Assads Führung gekommen. Dessen Sicherheitskräfte gingen mit Gewalt gegen die Demonstranten vor.
Daraus entwickelte sich ein Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung, der nicht nur Hunderttausende Leben kostete, sondern auch bis heute andauert – mit dramatischen Folgen für die Einwanderungsstatistik: Seit dem Jahr 2014 stehen Menschen aus Syrien durchgängig auf Platz eins der deutschen Asylstatistik. Und nicht nur dort – denn die meisten syrischen Flüchtlinge leben nahe ihrer Heimat: „Mehr als fünf Millionen syrische Flüchtlinge sind in den Nachbarländern registriert und etwa sieben Millionen leben als Vertriebene in Syrien selbst“, sagt Ruhenstroth-Bauer. Die humanitäre und wirtschaftliche Lage habe sich in den vergangenen Jahren sogar weiter verschlechtert – sowohl in Syrien als auch in den wichtigsten Aufnahmeländern wie der Türkei, dem Libanon und Jordanien. Das habe zur Folge, dass auch der Stress und Druck auf die Gastgemeinden immer stärker wird. Und die Motivation, weiter nach Europa zu ziehen, größer wird.
„Für die syrischen Flüchtlinge und Vertriebenen wird die Lage immer verzweifelter“, sagt der UN-Experte. 90 Prozent der Flüchtlinge in Jordanien, Libanon und Ägypten seien stark verschuldet, sie leihen sich Geld von Freunden und Nachbarn, um ihren täglichen Lebensbedarf decken zu können. „Um nur ein Beispiel zu nennen: In Jordanien hat sich das durchschnittliche Einkommen der Syrer innerhalb kürzester Zeit, zwischen dem vierten Quartal von 2022 und dem ersten Quartal von 2023, um zwölf Prozent verringert“, sagt Ruhenstroth-Bauer. „Die sich ständig verschlechternde wirtschaftliche Lage in den Aufnahmeländern, wie zum Beispiel die explodierende Inflation in der Türkei und im Libanon, trägt zu einer beschleunigten Verarmung der syrischen Flüchtlinge bei. Ausbeutung, vermehrte Kinderarbeit sowie Früh- und Zwangsheiraten von Mädchen sind die schrecklichen Folgen.“
Regierung lässt Systemkritiker „verschwinden“
Und doch spielt die soziale Komponente bei Entscheidungen, wer in Deutschland bleiben darf, eine untergeordnete Rolle. Asylberechtigt ist, wer in seiner Heimat schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist. NDR und WDR berichteten kürzlich aus dem vertraulichen Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes zu Syrien: In dem Schreiben von Anfang Februar werde festgehalten, dass die „systematische Verfolgung“ von Oppositionsgruppen und anderen Regimekritikern und Feinden des Regimes „unverändert“ andauere. Willkürliche Verhaftungen, so zitieren NDR/WDR, mit „häufig daran anschließender Isolationshaft“ seien ein „allgegenwärtiges Phänomen“ – ebenso das sogenannte „Verschwindenlassen“ von Personen. Mehr als 100.000 Menschen würden in Syrien mittlerweile als vermisst gelten, die meisten von ihnen seien Männer und viele von ihnen dürften tot sein. Auch aus diesen Gründen werden seit Jahren keine Geflüchteten nach Syrien abgeschoben. Gefährder oder Straftäter werden in kleiner Zahl in sichere Drittstaaten gebracht.
Zwar sitzt Baschar al-Assad wieder fest im Sattel, nimmt sogar an internationalen Gipfeln teil. Die Regierung beherrscht wieder zwei Drittel des Landes. Doch im Land selbst sind immer noch Milizen und Rebellengruppen aktiv. Immer wieder flammt Gewalt auf. Der Islamische Staat (IS) kontrolliert keine Gebiete mehr, verübt aber immer wieder Anschläge, zuletzt starben bei einem mutmaßlichen IS-Angriff im Osten des Landes mindestens 18 Menschen. Die Regierung finanziert sich unter anderem durch Drogenhandel. Eine echte politische Lösung für Syrien ist nicht in Sicht. Inzwischen bombardiert auch Israels Luftwaffe regelmäßig Ziele im benachbarten Syrien. Der Grund: Dort sollen Waffenlager der proiranischen Milizen eingerichtet worden sein.
„Natürlich müsste der Konflikt schnellstens beendet werden“, mahnt UN-Experte Peter Ruhenstroth-Bauer. Doch eine politische Einigung und ein baldiger Friedensschluss seien nicht in Sicht. „Darüber hinaus bräuchte Syrien wieder dringend mehr internationale Aufmerksamkeit“, sagt Ruhenstroth-Bauer. Andere Konflikte stünden aktuell in den Schlagzeilen, wie Gaza und die Ukraine. „Und es fehlen einfach die Hilfsgelder, um den Flüchtlingen Zukunftsperspektiven und ein Leben in Würde zu ermöglichen.“ Die Syrien-Hilfe sei drastisch unterfinanziert: Laut regionalem Hilfsplan des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) und des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) werden fast sechs Milliarden US-Dollar für die Syrien-Hilfe benötigt. „Von diesem Betrag sind erst 22 Prozent angekommen“, sagt der Flüchtlingsexperte. Im Libanon, wo 785.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen wurden, stünden aktuell sogar nur 18 Prozent der benötigten Summe zur Verfügung.