Es war im Oktober 2016, als Angela Merkel als erste deutsche Regierungschefin in den Niger gereist war. Dort lobte sie ausführlich, dass der Wüstenstaat, durch den bis dahin Hunderttausende Migranten in Richtung des kollabierten Nachbarlandes Libyen und dann Europa gezogen waren, die rechtlichen Grundlagen für den Kampf gegen Schleppernetzwerke geschaffen habe. Damals war im Niger das „Gesetz 36 zur Strafbarkeit von Schleusertätigkeiten und Menschenhandel“ gerade in Kraft getreten. Schleppern drohen seitdem bis zu 30 Jahren Haft, über 60 waren allein in den Monaten vor Merkels Besuch verhaftet worden. Rechtlich war das immer fragwürdig: Die Migranten wurden so schon Hunderte Kilometer vor der libyschen Grenze abgefangen.
Doch der Wüstenstaat war zu einem der wichtigsten Partnerländer für Europa bei der Auslagerung der EU-Grenzen geworden. Seitdem flossen mehrere Milliarden Euro an den Niger. Die Zahl der durchreisenden Migranten und Flüchtlinge sank zunächst enorm, von 300.000 auf unter 50.000 jährlich. Eine erfolgreiche Geschäftsbeziehung. Aber auch eine wacklige. Nun steht der für Europa angesichts der aktuellen Migrationskrise so wichtige Deal vor dem Aus. Knapp vier Monate nach dem Putsch gegen die pro-westliche Regierung des Niger unterzeichnete der Chef der Militärjunta, General Abdourahmane Tchiani, nun ein Dekret, mit dem das „Gesetz 36“ gegen Schleuser kurzerhand außer Kraft gesetzt wird. „Gute Nachrichten für alle, die nach dem 2015 verabschiedeten Gesetz ins Gefängnis mussten, weil der Transport von Migranten kriminalisiert wurde“, schrieb Ibrahima Hamidou, der Sprecher von Ministerpräsident Ali Lamine Zeine, auf Facebook, „dieses Gesetz wurde aufgehoben! Die EU soll ruhig weiter rumgestikulieren!“
Die Tuareg im Niger verdienen gut am Geschäft mit den Flüchtlingen
Die Entwicklung hatte sich seit einiger Zeit angedeutet. Schon im Oktober berichtete Ousmane Mamane, Chef der im Niger federführenden Regierungsagentur im Kampf gegen Schlepper (ANTLP), vom massiven Druck der Region Agadez – besonders durch das einflussreiche Tuareg-Volk, traditionell einer der Hauptakteure im Migrationsgewerbe. Agadez ist das „Tor zur Sahara“. Von hier starten die Flüchtlingsrouten über Libyen oder Algerien. Wegen der EU-finanzierten Patrouillen verloren dort nach Angaben regionaler Medien 5000 Menschen ihre oft lukrativen Jobs. Darunter nicht nur die Drahtzieher und Fahrer, sondern auch Gastwirte und Ladenbesitzer. EU-Programme zur Schaffung alternativer Arbeitsplätze im Niger blieben hinter den hohen Erwartungen der lokalen Bevölkerung zurück.
Ulf Laessing, der Leiter des Regionalprogrammes Sahel der Konrad-Adenauer-Stiftung, spricht von einem „Scherbenhaufen für die EU“. Europa habe auf Drängen Frankreichs keine Gespräche mit den neuen Machthabern im Niger geführt. „Deutschland, Italien und andere Länder waren besorgt, dass die Junta den Migrationspakt aufkündigen könnte und wollten daher mit der Junta ins Gespräch kommen“, sagte Laessing. „Sie trauten sich aber nicht, sich über Frankreichs Bedenken hinwegzusetzen.“
Migration durch Niger dürfte wieder steigen
Diese Uneinigkeit Europas werde dramatische Folgen haben. „Die Migration durch Niger nach Libyen wird jetzt wieder stark ansteigen“, sagte Laessing, „Russland bemüht sich, ähnlich wie in Mali und Burkina Faso, aktiv um die Gunst der neuen Machthaber und nutzt das Zögern Europas aus. Moskau dürfte die Junta darin bestärken, mehr Migration durch Niger Richtung Mittelmeerküste zuzulassen, um so Europa zu destabilisieren.“
Auch der Westafrika-Repräsentant der Hanns-Seidel-Stiftung, Goetz Heinicke, erkennt „einen erheblichen Rückschlag für die EU, den Flüchtlingsstrom aus Westafrika nach Europa zu kontrollieren und zu reduzieren“. Dieser Schritt solle auch die EU und westliche Länder unter Druck setzen, mit der Militärjunta im Niger zu kooperieren. Heinicke betont zudem die taktische Nutzung des gemeinsamen Feindbildes „Europa“ durch die Militärjunta, um von innerpolitischen Problemen abzulenken: „Der geschürte Hass auf Frankreich und Europa fällt auf sehr fruchtbaren Boden in der Bevölkerung. Dies stärkt das Nationalbewusstsein und den Zusammenhalt der Nigrer im Inneren.“
Das Migrationssystem wackelt derweil bereits seit dem Putsch vor vier Monaten. Das jährliche Regierungsbudget des Niger wird nach dem Putsch wegen eingefrorener Budgethilfen, Sanktionen und anderer wirtschaftlicher Folgen von fünf auf drei Milliarden Euro sinken. Das hat Auswirkungen auf Gesundheit und Bildung – und den Grenzschutz. Ob sich die Zahlen wieder denen von 2016 annähern werden, bleibt abzuwarten. Im Moment sind die Grenzen des Niger zu einigen Nachbarländern wegen Sanktionen geschlossen, was Migration zunächst noch erschwert.