„Sie sind jetzt in Sicherheit“, sagte Hans-Peter Friedrich. Der damalige Bundesinnenminister begrüßte am 11. September 2013 in Hannover 107 Syrer, die per Flugzeug aus Beirut angekommen waren – die ersten syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge, die Deutschland offiziell aufnahm. Zehn Jahre später leben mehr als 900.000 Syrer in der Bundesrepublik, in der Türkei sind es mehr als drei Millionen. Insgesamt sind 5,4 Millionen Syrer aus dem Bürgerkriegsland ins Ausland geflohen, die Zahlen gehen weiter steil nach oben. In Deutschland stehen die Syrer unangefochten an der Spitze der Asylstatistik. Die meisten von ihnen dürfen bleiben, Abschiebungen sind kaum möglich. Werden sie jemals zurückkehren?
Diese Frage ist zu einem Politikum geworden. In Deutschland plädiert die AfD für ein Abkommen mit der syrischen Regierung, um die Flüchtlinge nach Hause schicken zu können. Dänemark erlaubt die Abschiebung syrischer Flüchtlinge in einige Regionen des Bürgerkriegslandes. In der Türkei verspricht Präsident Recep Tayyip Erdoğan, er werde eine Million Syrer mit dem Bau neuer Siedlungen in türkisch besetzten Gebieten Syriens zur freiwilligen Rückkehr ermuntern. Der Libanon will jeden Monat 15.000 Syrer nach Hause schicken. Menschenrechtler werfen der Türkei und dem Libanon vor, Flüchtlinge gegen ihren Willen zu deportieren.
Die meisten Syrer wollen nicht zurück in ihre Heimat
Freiwillig geht bisher kaum jemand. In einer Umfrage des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR sagten 93 Prozent der befragten Syrer im Ausland, für sie komme eine Heimkehr in den nächsten zwölf Monaten nicht infrage. Für alle Zeiten ausgeschlossen ist dies für viele aber nicht: Jeder dritte Umfrageteilnehmer äußerte die Hoffnung auf eine Rückkehr in den nächsten fünf Jahren, 58 Prozent wollen irgendwann wieder nach Hause. Präsident Baschar al-Assad sagte letzten Monat dem Sender Sky News Arabia, seine Regierung verhandele mit der UNO bereits über „Projekte für die Rückkehr“.
Eine Heimkehr von zehntausenden oder Hunderttausenden Syrern wäre allerdings nur realistisch, wenn im kriegszerstörten Syrien eine neue Infrastruktur mit Schulen, Krankenhäuser und Straßen, neue Arbeitsplätze und eine neue politische Ordnung ohne Assads Zwangsherrschaft aufgebaut würden. In absehbarer Zeit dürfte sich keine dieser Voraussetzungen erfüllen.
Wie können künftige Flüchtlingswellen verhindert werden?
Murat Erdoğan, Leiter des Zentrums für Migrationsforschung Mügam an der Universität Ankara und einer der führenden Experten für syrische Flüchtlinge, glaubt nicht an eine Rückkehr der Geflohenen in ihre Heimat. „Das funktioniert nicht“, sagte Erdoğan unserer Redaktion. „Das ist zu spät. Die haben ein neues Leben.“ Statt auf die Rückkehr der Syrer zu hoffen, sollten sich die Aufnahmeländer nach Meinung des Migrationsforschers besser Gedanken darüber machen, wie neue Fluchtwellen verhindert werden können. Schließlich sind sieben Millionen Syrer im eigenen Land heimatlos. Sollte es eine neue Krise in der Rebellenprovinz Idlib geben, würden sich sofort Millionen Menschen auf den Weg zur türkischen Grenze machen, sagt der Experte. „Und dann wird die Türkei einen Korridor für Flüchtlinge von der syrischen Grenze bis nach Edirne“ an der Landgrenze zur EU einrichten, meint Murat Erdoğan.
Als Mittel gegen neue Fluchtwellen empfiehlt der Experte einen Tabubruch: eine Zusammenarbeit mit Assad. Arabische Nachbarländer von Syrien haben bereits damit begonnen, ihre Beziehungen zum Regime in Damaskus zu normalisieren. Auch die Türkei strebt Gespräche mit Damaskus an, um eine Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen.
In Syrien geht der Wiederaufbau nicht voran
Er verstehe die Argumente der Europäer gegen eine Zusammenarbeit mit dem Diktator, sagt Murat Erdoğan. Auch er sei kein Freund von Assad. „Aber Syrien ist eine tickende Bombe, die jederzeit wieder explodieren kann. Und nach mehr als zwölf Jahren ist Assad immer noch da.“ Europa arbeite schließlich auch mit anderen autokratischen Regimen zusammen. Geld für den Wiederaufbau in Syrien wäre aus seiner Sicht „eine strategische Investition für Europa“.
Gemeinsam sollten die EU, die Türkei und die syrische Regierung nach Vorstellungen des Migrationsforschers mit europäischen Geldern in allen Teilen Syriens an den Wiederaufbau gehen, um Syrern in Syrien einen Grund zu geben, in ihrem Land zu bleiben. Zwar würden sich selbst bei einem erfolgreichen Wiederaufbau nur relativ wenige Syrer in Deutschland oder anderen Länder für eine Rückkehr entscheiden, sagt Murat Erdoğan. Doch sein Vorschlag könne immerhin die Flucht von weiteren Millionen Menschen in die Türkei und nach Europa verhindern. Schon im Flüchtlingsabkommen von 2016 hatten EU und Türkei verabredet, „die humanitären Bedingungen innerhalb von Syrien zu verbessern“.
Baschar al-Assad will keine Kompromisse eingehen
Die Diskussion, ob und wie der Westen mit Assad kooperieren sollte, steht erst am Anfang. USA und die EU bestehen nicht mehr ausdrücklich auf einem Rücktritt des Diktators als Voraussetzung für eine Normalisierung – und das, obwohl der schwerste Kriegsverbrechen begangen hat. EU-Staaten wie Griechenland, Ungarn und Zypern halten Kontakt mit dem Assad-Regime. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock fordert aber, dass „jeder Schritt in Richtung Assad“ von konkreten Zugeständnissen des Regimes abhängig gemacht werden sollte. Die US-Regierung äußerte sich ähnlich.
Bisher sieht Assad keinen Grund für Kompromisse. Er hat den Krieg gegen die Rebellen militärisch gewonnen, die UN-Verhandlungen über politische Reformen torpediert – und wird trotzdem von seinen arabischen Nachbarn umworben. Die meisten syrischen Flüchtlinge im Ausland dürften deshalb erst einmal bleiben, wo sie sind. Die Türkei hat bereits 200.000 Syrer eingebürgert, in Deutschland waren es allein im vergangenen Jahr rund 50.000.