Im bayerischen und hessischen Wahlkampf spielte das Thema Migration die entscheidende Rolle. Wie mit den Geflüchteten hier umzugehen sei, aber auch, wie mehr Zuwanderung nach Deutschland künftig verhindert werden könne. Ein wichtiger Baustein dabei ist die internationale Zusammenarbeit. Doch das von vielen in Europa als wichtiger Schritt zur Bekämpfung irregulärer Migration gefeierte Abkommen zwischen der EU und Tunesien steht nun vor dem Aus. Und das nur wenige Wochen nach der Verkündung der Zusammenarbeit, die vorsieht, dass die EU insgesamt 900 Millionen Euro in das krisengebeutelte Land überweist.
Die erste Zahlung hat Tunesiens Präsident Kais Saied nun mit dem Verweis abgelehnt, er nehme nichts an, „was Gnaden oder Almosen ähnelt“. Gleichzeitig spricht er von einem „Diktat“ der EU. Das Abkommen stand von Anfang an auf wackligen Beinen. Und Europa steht damit als Verlierer da.
Tunesiens Präsident stellt sich offen gegen die EU – trotz Abkommen
Tunesiens Präsident Saied hat den ersten Finanzhilfen von 127 Millionen Euro der EU-Kommission einen Riegel vorgeschoben. „Tunesien lehnt ab, was die Europäische Union in den vergangenen Tagen angekündigt hat“, ließ Saied über Facebook mitteilen. Die Gelder sind an Bedingungen gekoppelt. Der Präsident wirft der Kommission vor, dass diese im Widerspruch zu den im Sommer ausgehandelten Absichtserklärungen stünden.
Worin der Widerspruch liege, sagt Saied nicht. Dass der Deal einen spürbaren Beitrag beim Kampf gegen irreguläre Migration leisten kann, bezweifelten Expertinnen und Experten von Anfang an. Jetzt könnte der Streit aber nachhaltigen Schaden für die EU bedeuten, prognostiziert Max Gallien, Politologe und Nordafrikaexperte am Institute of Development Studies an der Universität in Sussex.
„Bei dem Abkommen handelt es sich eher um eine Absichtserklärung, die nicht sonderlich detailliert ist“, sagt Gallien. Ein Großteil der 900 Millionen Euro ist an Wirtschaftsreformen gekoppelt, die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) vorgegeben sind. Für Tunesien würde das Kürzungen bei Subventionen und Beamtengehältern bedeuten. Innenpolitisch brächte das Präsident Saied, der ohnehin schon unter Druck steht, weiter in Bedrängnis. Im Land drohen neue Unruhen. „Der Wille für wirtschaftliche Reformen fehlt; ohne externe Hilfe wird sich Tunesien mittelfristig aber sehr schwertun“, analysiert Gallien die Situation. „Saied befindet sich in einer Zwickmühle seines eigenen Schaffens.“
EU-Politiker wollten mit Migrations-Abkommen Zeichen setzen
Dabei galt das Abkommen bei EU-Politikerinnen und Politikern im Sommer als Meilenstein, um flüchtende Menschen vom Erreichen der EU-Außengrenze abzuhalten. Medienwirksam reisten Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der niederländische Regierungschef Mark Rutte nach Tunis und ließen sich lächelnd vor der internationalen Presse ablichten. Tunesien gilt mittlerweile als eines der Haupttransitländer für Geflüchtete, die nach Europa wollen. Besonders an der Mittelmeerinsel Lampedusa kommt ein Großteil der Geflüchteten von der tunesischen Küste.
Neben schönen Fotos und der Botschaft an die Menschen in Europa, nun einen wichtigen Schritt gegen Zuwanderung getan zu haben, bleibt das Abkommen aber recht kernlos, argumentiert der Nordafrikaexperte Gallien. „Die tunesische Regierung hat immer wieder klargemacht, sich nicht als Außengrenze Europas zu sehen.“ Außerdem, sagt der Politologe, sei trotz des Abkommens nach wie vor unklar, wie Tunesien die Migration über das Mittelmeer überhaupt effektiv bekämpfen kann und will. „Unsere europäischen Vorstellungen, wie das unkompliziert funktionieren soll, greifen da zu kurz.“
Kritikerinnen und Kritiker sagen, das Abkommen zur Reduzierung der Zahl neuer Geflüchteter sei von Anfang an mehr Schein als Sein gewesen. Nach ohnehin unklaren Bedingungen und wenig Kooperationsbereitschaft seitens der tunesischen Regierung analysiert Gallien, dass „das Abkommen erst mal als gescheitert erklärt werden kann, obwohl es noch nicht am Ende ist".
So bekommt die EU ihre Probleme mit der Migration nicht in den Griff
Bitter ist das besonders für die EU, die in dem Deal eine Blaupause für weitere Abkommen mit benachbarten afrikanischen Ländern sieht. Zudem seien die IWF-Bedingungen für die Finanzspritzen als Signalwirkung für neue potenzielle Geldgeber in der Region gedacht gewesen. Wie es zwischen Tunesien und den europäischen Ländern weitergeht, ist unklar, sagt Gallien. „Das Handeln der tunesischen Regierung und die Politik des Präsidenten ist – vorsichtig formuliert – nicht immer von Vorhersehbarkeit geprägt.“
Sowohl bei Reformen als auch der Frage nach dem Umgang mit Geflüchteten seien Tunesien und die EU in der Sache nicht beisammen. Der Politologe prognostiziert, dass der wackelnde Deal in den kommenden Tagen innerhalb Europas noch für Zündstoff sorgen wird. Auch die Beziehung zu Tunesien sei nun nachhaltig belastet: „Solche Verstimmungen können nicht mit zwei oder drei Besuchen in Tunis wieder beseitigt werden.“ Klar ist also schon jetzt: Mit dem einst gefeierten Abkommen wird die EU die Zahl der Migrantinnen und Migranten wohl nicht reduzieren können.