Die türkisch-europäische Flüchtlingskrise ist offenbar beigelegt: Die türkische Regierung schließt die Landgrenze zu Griechenland. Die Übergänge nach Griechenland und Bulgarien würden in der Nacht zum Donnerstag von türkischer Seite aus geschlossen, teilte das türkische Innenministerium am Dienstag mit. Die Entscheidung, die Grenzöffnung rückgängig zu machen, kommt einen Tag nach einer Video-Konferenz des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit europäischen Spitzenpolitikern.
Die EU hatte in den vergangenen Wochen betont, dass die Türkei nicht mit neuem Geld zur Versorgung syrischer Flüchtlinge rechnen könne, solange die „Erpressung“ der Grenzöffnung anhalte. Gerald Knaus, Chef der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI) und Vordenker des Flüchtlingsabkommens von 2016, forderte im Gespräch mit unserer Redaktion nun eine rasche finanzielle Unterstützung der EU für Flüchtlinge in der Türkei
Erdogan öffnete Grenzen, um EU unter Druck zu setzen
Im Flüchtlingsabkommen von 2016 hatte die EU der Türkei sechs Milliarden Euro für vier Jahre zugesagt, während sich die Türkei verpflichtete, beim Grenzschutz mit der EU zu kooperieren. Nach EU-Angaben ist das Geld inzwischen entweder ausgezahlt oder für konkrete Projekte verplant. Deshalb wird eine Anschlussregelung gebraucht. Die Türkei wirft der EU jedoch vor, einige Zusagen aus dem Jahr 2016 nicht eingehalten zu haben. Erdogan hatte Ende Februar die Grenztore zu Griechenland für Flüchtlinge geöffnet, um die EU unter Druck zu setzen. Die Abwehrmaßnahmen der griechischen Grenztruppen, die die allermeisten Flüchtlinge an einem Grenzübertritt hinderten, verglich Erdogan mit den Methoden der Nazis.
Nun hat Erdogan jedoch offenbar eingesehen, dass er mit seiner Taktik gescheitert ist. Das türkische Innenministerium begründete die Grenzschließung offiziell mit dem Kampf gegen das Coronavirus. Im Grenzgebiet bestiegen Flüchtlinge am Mittwoch Reisebusse, die sie nach Istanbul bringen sollten, wie in Videos türkischer Journalisten aus der Region zu sehen war.
Nach der Video-Konferenz mit Erdogan, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem britischen Premierminister Boris Johnson hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag bereit erklärt, die EU-Gelder für die Flüchtlingsversorgung in der Türkei aufzustocken. Man dürfe auch die auf Eis gelegten Gespräche über eine Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei „nicht aus den Augen verlieren“, sagte die Kanzlerin. Damit kam sie Erdogan im Streit über die Umsetzung des Flüchtlingspakts entgegen.
Experte: EU soll weitere Milliarden zur Verfügung stellen
ESI-Chef Knaus sagte, mit der Grenzschließung sei die Voraussetzung für die bereits seit Monaten nötigen Verhandlungen über eine Neuauflage des Abkommens von 2016 geschaffen. „Es ist gut, dass die Türkei aufhört, Menschen an der Grenze zu instrumentalisieren“, sagte Knaus. „Nun sollte die EU ihrerseits das Angebot weiterer Hilfen für Flüchtlinge in der Türkei auf den Tisch legen, was sie vor vier Monaten verabsäumt hat.“ Gebraucht werde „eine Minimal-Vereinbarung, um den Flüchtlingen möglichst schnell zu helfen“.
Kurzfristig sollte die EU laut Knaus weitere sechs Milliarden Euro für die Versorgung, Integration und Bildung syrischer Flüchtlinge in der Türkei zur Verfügung stellen. Dann seien im Sommer neue Verhandlungen über andere Aspekte wie die 2016 in Aussicht gestellte Visafreiheit für Türken in der EU möglich, meint Knaus.
„Beide Seiten haben ein Interesse an einer Neuauflage der Kooperation“, sagte Knaus. Erdogans Entscheidung zur Grenzöffnung und seine scharfe Rhetorik hätten in Europa zwar für viel böses Blut gesorgt. Doch aus Verärgerung über Erdogan eine weitere Hilfe für die Flüchtlinge zu verweigern, sei nicht im europäischen Interesse. „Unabhängig davon, wer in Ankara Präsident ist, muss die EU anerkennen, was die Türkei in der Flüchtlingsfrage geleistet hat und immer noch leistet.“ Ein Erfolg der Integration der Syrer in die türkische Gesellschaft „ist im Interesse der EU“.
Türkei kann humanitäre Lage in Idlib nicht alleine schultern
Die EU müsse nun rasch klarstellen, dass die Türkei mit weiteren Milliarden rechnen könne. „Deutschland und Frankreich müssen vorangehen“, sagte Knaus. Dann seien im Sommer neue Verhandlungen über andere Aspekte wie die 2016 in Aussicht gestellte Visafreiheit für Türken in der EU möglich.
Zur Entschärfung der Lage für bis zu eine Million Flüchtlinge in der syrischen Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei sollte sich Europa ebenfalls mehr engagieren, sagte Knaus. „Kurzfristig muss die EU alles tun, um den Druck auf Russland zu erhöhen. Wenn der Waffenstillstand hält und Russland humanitäre Hilfe in Idlib zulässt, wäre schon viel gewonnen.“ Russland ist der mächtigste Verbündete der syrischen Regierung und die bestimmende Militärmacht in Syrien.
Auch in Idlib könne die Türkei die humanitäre Lage „nicht alleine schultern“, sagte Knaus. „Auch hier kann die EU mit Geld helfen.“ Bisher lehnen Europa und die USA die Pläne Erdogans zur Umsiedlung von bis zu zwei Millionen syrischen Flüchtlinge in geplante „Schutzzonen“ im Nordosten Syriens ab. Diese Haltung sei grundsätzlich richtig, betonte Knaus, doch in Idlib gehe es um eine dringend nötige Versorgung von Menschen, die bereits geflohen seien. „Humanitäre Hilfe für Menschen in Idlib schließt Kritik an etwaigen Umsiedlungsplänen für Nordost-Syrien nicht aus.“
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