Jahrelang hatten die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union das heikle Thema Migration gar nicht erst auf die Agenda ihrer großen Gipfel gesetzt. Denn es ist völlig klar, wie weit die Gemeinschaft von einer einheitlichen Linie entfernt ist. Nun aber hat der Druck in einigen Mitgliedstaaten derart zugenommen, dass die Frage nach dem Umgang mit Flüchtlingen das zweitägige Sondertreffen dominieren wird, das an diesem Donnerstag in Brüssel beginnt. Im Kern wird es vor allem darum gehen, wie die EU ihre Außengrenzen schützt, ob es Grenzzäune geben wird – und wer dafür bezahlen soll.
Wie wird sich Italiens Premierministerin Giorgia Meloni verhalten?
Die Aufmerksamkeit wird dabei auch auf Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni liegen. Die Vorsitzende der rechtsradikalen Partei Fratelli d'Italia plädiert für eine restriktivere Migrationspolitik. Auf europäischer Ebene war sie aber bislang weder durch radikale Forderungen noch durch eine Blockadehaltung aufgefallen.
Ob das so bleibt? Angesichts von massiv steigenden Asylbewerberzahlen und vielerorts ausgelasteten Kapazitäten durch die vier Millionen Menschen, die vor russischen Bomben aus der Ukraine in die EU geflohen sind, steht sie mit ihren Wünschen nach einem harten Kurs keinesfalls alleine da.
Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer droht mit Blockade
In Karl Nehammer dürfte sie einen Mitstreiter haben. Österreichs Bundeskanzler droht bereits damit, die Abschlusserklärung des Gipfels nicht zu unterschreiben, falls keine konkreten Vereinbarungen erzielt werden sollten. "Leere Worthülsen werden nicht ausreichen. Es braucht endlich ein klares und deutliches Bekenntnis zur Verstärkung des Außengrenzschutzes und zum Einsatz entsprechender finanzieller Mittel aus dem EU-Budget dafür", sagte Nehammer der Welt.
Die Lage hat sich im vergangenen Jahr zugespitzt: Die Zahl der irregulären Einreisen in die EU, etwa über den Westbalkan und das Mittelmeer, stieg laut Grenzschutzagentur Frontex auf 330.000 – so viele wie seit 2016 nicht mehr. Die "Rückführungsquote" lag bei 21 Prozent, das heißt: Nur etwa jeder Fünfte, der abgelehnt wurde, hat die EU tatsächlich verlassen.
Die Zahl der illegalen Einreisen in die EU ist massiv gestiegen
Nun will die Union an einer Lösung arbeiten, wie Menschen schneller abgeschoben werden können, die kein Recht auf einen Aufenthaltsstatus bekommen. Oft liegt das Problem nicht nur an deren Widerwillen zu gehen, sondern auch in deren Herkunftsländern. Deshalb befürworten Länder wie Schweden, die Niederlande oder Österreich mehr Druck auf Drittstaaten, die ihre Staatsangehörigen nicht wieder aufnehmen wollen. Ein möglicher Hebel ist die Erschwerung der Visa-Vergabe an Bürgerinnen und Bürger dieser Länder. Einige EU-Staaten sehen das aber skeptisch, auch Deutschland.
Abschreckung und Abschottung – zwei Schlagworte, die in der Gemeinschaft immer hoffähiger zu werden scheinen. Nicht nur Österreich appellierte an die EU-Kommission, den Bau von Zäunen an der Außengrenze zu finanzieren. Offenbar unterstützt eine Mehrheit im Club der 27 inzwischen diesen Vorstoß. Die beiden Schwergewichte Frankreich und Deutschland sprechen sich bislang dagegen aus.
Stellt die EU Geld für Grenzzäune und Mauern zur Verfügung?
Auch die EU-Kommission ist offiziell zurückhaltend. Doch in einem vorläufigen Entwurf der Gipfel-Erklärung heißt es, dass "Infrastruktur" finanziert werden soll. Die Formulierung lässt viel Spielraum für Interpretationen. Sind damit Grenzhäuschen, Kameras oder Lichtmasten gemeint? Oder könnten die Mitgliedstaaten das Geld auch für Mauern und Zäune ausgeben? Auch um diese Frage wird es nun gehen.
Der Besuch von Wolodymyr Selenskyj beim Gipfel gerät angesichts des sich anbahnenden Streits beinahe zur Randnotiz. Insider fragen sich, was die EU dem ukrainischen Präsidenten, der am Mittwoch schon in Großbritannien zu Gast war, noch bieten kann, nachdem vergangene Woche bereits ein Gipfel in Kiew stattgefunden hatte. Man werde wohl „recyceln“, was man dort schon angekündigt hatte, heißt es aus Diplomatenkreisen. Selenskyj dürfte den Wunsch der Ukraine erneuern, möglichst rasch der Gemeinschaft beizutreten.