Zumindest für diesen einen Moment kann Olaf Scholz vergessen, dass er schon in wenigen Tagen wieder ein Getriebener sein wird. Ein Kanzler mit dem Rücken zur Wand. Einer, der in seiner Not die Hand ausstreckt, um einen Deutschlandpakt zu schmieden, von dem er selbst nicht so recht zu wissen scheint, was eigentlich drinstehen soll. Derzeit deutet viel darauf hin, dass die Ära Scholz nur eine Episode bleiben wird. Doch der Regierungschef ist verliebt in seine Illusion, eine Ära prägen zu können. Er ist ein Meister des Ausblendens. Auch in diesem Moment, den er nun, in der Nacht zu Dienstag, als „sehr historisch“ bezeichnet.
Stundenlang hat er mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder zusammengesessen, um zumindest mal das erste Kapitel des Deutschlandpaktes aufzuschlagen. Und nun gilt es, das Ergebnis als Meilenstein seiner Kanzlerschaft zu verkaufen. Zeitenwende. Mindestens. In Wahrheit werden den großen Worten wohl eher kleine Schritte folgen. Aber davon will sich der Illusionskanzler nicht behelligen lassen, nicht in dieser Stunde. In seiner Stunde.
Scholz wirkt nach dem Asylgipfel müde, aber eben auch zufrieden
Für einen Mann, der am Abgrund steht, hat Scholz erstaunlich gute Laune. Er weiß: Die Flüchtlingskrise hat die Wucht, das politische System für immer zu verändern. Trotz dieser Gefahr wirkt er in dieser Nacht gelöst. „Unser gemeinsames Ziel ist es, die irreguläre Migration zurückzudrängen“, sagt er nach dem Kraftakt hinter verschlossenen Türen bei Gulasch, Rotkraut und Pilzpfanne. Müde wirkt er, aber eben auch zufrieden. Oder selbstzufrieden?
Scholz brauchte dringend einen Erfolg. In den Umfragen pendelt seine SPD um die Marke von 15 Prozent, die Wahlen in Hessen und Bayern waren ein Fiasko, die Ampelkoalition mit FDP und Grünen wird von Fliehkräften zerrissen. Gleichzeitig feiert die AfD einen Wahlsieg nach dem anderen und ein Ende ist auch 2024 nicht in Sicht, wenn im Osten der Republik gewählt wird. Die Lage scheint so verzweifelt, dass CDU und CSU Scholz öffentlich anbieten können, in der Not doch eine Große Koalition zu bilden, um der Migrationskrise Herr zu werden. Allein schon, dass man dieses Oppositionsmobbing für einen Moment tatsächlich ernst nimmt, zeigt den Ernst der Situation.
Einen Trumpf aber hatte Scholz an diesem Abend in der Hand. Und den setzt er klug ein. Dabei nutzte ihm seine Erfahrung von zahllosen Bund-Länder-Runden, die er als Hamburger Bürgermeister und Bundesfinanzminister schon hinter sich gebracht hat. Dieser Trumpf ist das Geld. Scholz hat davon gar nicht so viel im Angebot, etwas mehr als eine Milliarde Euro. Aber der Illusionskünstler weiß, wie man damit einen möglichst großen Zauber entfaltet. Seit Monaten fordern die Ministerpräsidenten mehr Geld, um die Unterbringung und Versorgung Hunderttausender Flüchtlinge zu finanzieren. Die Bürgermeister liegen den Länderchefs in den Ohren, so könne es nicht weitergehen.
Scholz wendet die alte Taktik von Angela Merkel an
Doch Scholz lässt die Ministerpräsidenten lange zappeln. Über seine rechte Hand, Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, gab er ihnen vor dem Treffen zu verstehen, dass im Haushalt des Bundes leider kein Sonderposten für eine Finanzspritze mehr zur Verfügung stehe. Ganz im Gegenteil: Der Zuschuss sollte sogar von 3,75 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 1,25 Milliarden Euro für 2024 zusammengestrichen werden. Der Bund müsse schließlich sparen, so die lapidare Begründung.
Doch all das gehörte zur Taktik. Sogar während der Verhandlungen in der Nacht noch verschleppt Scholz bewusst das Spiel, um sein einziges Ass dann optimal zur Wirkung zu bringen. Er lässt erst Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu seinen Themen reden. Das dauert. Dann darf Robert Habeck sprechen, auch das zieht sich. Erst gegen Mitternacht dann, endlich – das Geld. Es ist die alte Taktik Angela Merkels. Scholz’ Vorgängerin machte stets einfach so lange weiter, bis ihre Gegenspieler reihenweise einbrachen: Verhandlungssieg durch Ermattung.
Als es um die Finanzen geht, haben die Länderchefs schon 13-stündige Beratungen in den Knochen, ihre eigenen Vorgespräche hatten viel länger gedauert als gedacht. Die CDU/CSU-Seite hatte mit Unterstützung des Grünen-Landesvaters Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg versucht, die SPD-Ministerpräsidenten und den Kanzler mit scharfen und vor allem neu vorgetragenen Forderungen nach Asylverfahren außerhalb Europas unter Druck zu setzen. Das konnten die Sozialdemokraten mit Rücksicht auf ihre eigene Partei und die Grünen in der Ampelkoalition nicht akzeptieren. Denn „gewöhnliche“ Grüne sind längst nicht so konservativ wie Kretschmann. „Uns war bis relativ früh am Morgen nicht klar, ob wir es miteinander schaffen würden“, berichtet der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) später von der Kraftprobe im Kanzleramt. Er sei froh, Berlin jetzt wieder verlassen zu können. Letztlich aber stach Scholz´ Trumpf auch bei den Unionsländern und auch Baden-Württemberg wollte das Geld. Also verzichten sie darauf, die Gespräche platzen zu lassen. Sie bekommen vom Bund im nächsten Jahr für jeden Flüchtling pauschal 7500 Euro. Statt der zunächst angebotenen 1,25 Milliarden macht das rund 2,5 Milliarden Euro. Eine Milliarde soll außerdem freigemacht werden, indem Flüchtlinge später Bürgergeld (vormals Hartz IV) beziehen. Diese Milliarde fließt also nicht direkt aus der Kasse des Bundes, sondern soll über Einsparungen an anderer Stelle aufgebracht werden.
Noch bekommen Asylbewerber diese Sozialleistung schon nach 18 Monaten in Deutschland. Künftig soll dies erst nach 36 Monaten der Fall sein, bis dahin würde die niedrigere Unterstützung aus dem Asylbewerberleistungsgesetz gezahlt. In Summe entsprechen die 3,5 Milliarden Euro beinahe den 3,75 Milliarden, die dieses Jahr an die Länder überweisen werden.
Scholz mutet auch seiner SPD einiges zu
Irgendwann nach 3 Uhr in der Früh dann die Pressekonferenz. „Länder können sich immer vorstellen, dass es noch mehr Geld geben kann“, sagt der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU). „Aber ich finde schon, dass es uns durchaus gelungen ist, etwas zustande zu bringen, das sich sehen lassen kann.“ Dafür, dass die Union den Kanzler vor sich hertreiben wollte, klingt das doch recht zahm.
Rheins Zurückhaltung lässt Raum für Scholz’ Erzählung. „Ich will nicht zu große Worte ergreifen, aber doch sagen, dass ich glaube, dass das hier ein sehr historischer Moment ist“, sagt der Kanzler vor einer Handvoll ermatteter Journalisten. Die Geschlossenheit von Bundesregierung und Ländern, von Scholz und den Ministerpräsidenten sei unverzichtbar in dieser Zeit der gesellschaftlichen Aufladung und Spaltung, wie es der Kanzler formuliert.
Doch Scholz hat für diesen Schulterschluss nicht nur Geld auf den Tisch gelegt. Er mutet auch seiner SPD einiges zu. Nicht nur, weil Asylbewerber künftig erst nach drei Jahren Bürgergeld erhalten sollen. In der Großen Koalition hatten die Genossen diese Idee noch blockiert. Nun will der Chef auch noch höchstpersönlich dafür sorgen, dass mehr abgeschoben wird. „Auf höchster Ebene“ will er intensiv Migrationsabkommen mit anderen Staaten verhandeln. Diese Aufgabe ist durchaus anspruchsvoll, Horst Seehofer etwa hat sich als Innenminister daran die Zähne ausgebissen. Denn wer hat schon Interesse daran, Landsleute zurückzunehmen, die aus dem Ausland oft auch noch viel Geld in die alte Heimat schicken? Erschwerend hinzukommt, dass selbst die nun beschlossenen schärferen Abschieberegeln wenig Entlastung bringen werden: Fachleute aus dem Innenministerium rechnen mit 600 Abschiebungen mehr durch die strengeren Vorschriften – pro Jahr.
Alles eher kleine, erste Schritte also. Zu klein jedenfalls für einen wie Markus Söder. Vorbei die Zeiten, etwa in der Corona-Krise, als der bayerische Ministerpräsident bei den Bund-Länder-Treffen so forsch auftrat, dass man meinte, er wäre so etwas wie Deutschlands zweiter Regierungschef. An diesem Abend tut Söder etwas für ihn sehr Untypisches: Er schweigt. Söder weiß natürlich, dass die Ergebnisse für die Bürgerinnen und Bürger erst mal wenig Greifbares bringen und den Zuzug kaum beschränken werden. Daher setzt er seine Punkte lieber vor und nach dem Treffen – wenn die Kameras laufen.
Und so ist es vor allem NRW-Regierungschef Hendrik Wüst, der den Ton für die Union angibt – und damit seinen eigenen Parteichef, ob gewollt oder ungewollt, in den Schatten stellt. Denn ausgerechnet Friedrich Merz, der in den vergangenen Wochen keine Gelegenheit ausgelassen hat, seine Bereitschaft zu betonen, gemeinsam mit dem Kanzler den Deutschlandpakt zum Wohle der Nation zu schmieden, sitzt an diesem Abend in Ermangelung eines Amtes nicht am Tisch.
Wüst inszeniert sich als Macher, der die Probleme kennt
Wüst, 48, füllt dieses Vakuum liebend gern. Er inszeniert sich als Macher, als einer, der die Probleme der Städte und Landkreise nicht nur vom Hörensagen kennt – im Gegensatz zu seinem Parteichef, muss man sich wohl hinzudenken. Als Wüst mit seiner Idee einer Kommission zur Migration um die Ecke kommt, die nicht nur über Parteigrenzen hinweggehen, sondern auch möglichst viele gesellschaftliche Gruppen abbilden soll, wittert nicht nur der Kanzler unlautere Motive gegenüber Merz. Mit gespielter Empörung wirft Scholz die Frage in den Raum , ob das womöglich eine „Volte“ sei, um den CDU-Chef auszubooten. Andere Teilnehmer wollen das Wort „Intrige“ gehört haben. So oder so – Scholz kostet den Augenblick aus. Es ist sein Moment, um sich als verantwortungsvoller Staatsmann zu zeigen, und zugleich das Bild einer Opposition zu zeichnen, die mehr mit sich selbst beschäftigt sei als mit der Sache. Und Söder? Schweigt noch immer. Es geht in solchen Momenten ja immer auch um die Frage, wer das Format zum nächsten Kanzlerkandidaten hat. Und wenn zwei sich streiten, freut sich ein Franke.
Am Dienstagvormittag müssen Merz und Wüst die Scherben zusammenkehren. Sie geben eine gemeinsame Pressekonferenz – dummerweise haben sie keine gemeinsame Botschaft. Der CDU-Chef sagt sinngemäß, dass so eine Ministerpräsidentenrunde ja viel besprechen könne, aber eben alles Makulatur bleibe, wenn die Regierung die Beschlüsse ignoriert. Merz´ Botschaft: Die Wahrheit liegt im Bundestag und das ist mein Spielfeld. Den Deutschlandpakt erklärt er mangels Kooperationsbereitschaft des Kanzlers für „erledigt“. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident wiederum erwähnt, scheinbar beiläufig, dass die Bundestagsfraktion der Union bei der nächtlichen Sitzung nicht dabei war und dass es am Ende darauf ankommen werde, wie die Länder das Migrationsthema meistern werden. Seine Botschaft: Ich bin ein Mann der Praxis.
Was die beiden gar nicht zu merken scheinen: Ihr Streit nutzt nur einem – Olaf Scholz. Der Kanzler hat in Sachen Migration in dieser Nacht nicht mehr als einen ersten Schritt erreicht. Die Union aber, die hat er für heute besiegt. Zumindest das ist keine Illusion.