Brüssel sollte als Vermittlungsort dienen, die EU-Kommission als Schlichterin. Im Streit um illegale Migration wollten die 27 Innenminister am Freitag bei ihrem Sondertreffen vor allem die Krise zwischen Italien und Frankreich entschärfen, die sich seit Wochen zuspitzt. Denn es geht längst nicht mehr nur um die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen, die über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa kommen. Der Zusammenhalt der Staatengemeinschaft steht auf dem Spiel – wie so oft in der EU, wenn es um das leidige Thema Asyl- und Migrationspolitik geht.
Vor diesem Hintergrund appellierte der für Migration zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, an die Regierungen, die Solidarität und die Lastenteilung zu verbessern. Er verwies auf den Aktionsplan, den EU-Innenkommissarin Ylva Johansson diese Woche vorgestellt hatte und mit dem die Brüsseler Behörde eine Brücke nicht nur zwischen den beiden Nachbarn schlagen wollte. Über ihn sollte am Freitag beraten werden.
Neue Regierung in Italien weigert sich, Schiff mit geretteten Geflüchteten in einen italienischen Hafen zu lassen
Auslöser der Auseinandersetzung waren die Muskelspiele der neuen Regierung in Rom, die sich – nur kurze Zeit im Amt – vor gut zwei Wochen geweigert hatte, das Seenotrettungsschiff „Ocean Viking“ mit 234 Migranten an Bord in einen italienischen Hafen einfahren zu lassen. Letztendlich war es nach Frankreich ausgewichen. Dort wütete Präsident Emmanuel Macron. Er warf der ultrarechten Ministerpräsidentin Giorgia Meloni vor, gegen internationales Recht zu verstoßen. Zur Strafe nahm Paris das Versprechen zurück, in diesem Jahr 3500 geflüchtete Menschen aus Italien aufzunehmen.
Rom dagegen kritisierte mangelnde Solidarität der anderen EU-Länder und forderte mehr Unterstützung. Kommissarin Johansson zeigte Anfang der Woche Verständnis. Die Situation sei nicht haltbar, meinte sie und betonte, dass „eine deutliche Mehrheit der Menschen, die heute über diese zentrale Mittelmeerroute ankommen, keinen internationalen Schutz braucht“. Viele der Menschen wollten in der EU vor allem Geld verdienen, so die Schwedin. Würden Johanssons präsentierten Vorschläge also Frieden stiften? Diplomaten winkten ab. Mit weitreichenden Beschlüssen wurde am Freitag nicht gerechnet. Als Grund verwiesen sie auf den Aktionsplan, der ihrer Ansicht nach kaum neue Ideen beinhalte. So sieht eine Säule etwa vor, die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Durchreiseländern zu intensivieren und in Nordafrika, vorneweg in Libyen, ein neues Programm gegen Menschenschmuggel zu starten, sodass sich weniger Menschen auf den Weg nach Europa machen.
Migration: Der Solidaritätsmechanismus der EU funktioniert nicht
Darüber hinaus sollen die Richtlinien, nach denen internationale Seenotretter tätig sind, überarbeitet werden. Als dritte Säule schlug die EU vor, die freiwillige Verteilung von Flüchtlingen besser und zügiger zu organisieren. Der sogenannte Solidaritätsmechanismus war erst im Juni beschlossen worden, um die EU-Anrainerstaaten wie Griechenland, Italien oder Zypern zu entlasten. Damals als „historische Abmachung“ gefeiert, fällt die bisherige Bilanz aber nüchtern aus. 19 EU- und vier Schengen-Länder hatten sich zur freiwilligen Teilnahme bereit erklärt, von denen laut Kommission 13 Staaten Bootsflüchtlinge aufnehmen wollten. Andere Länder, etwa Dänemark oder die Niederlande, versprachen, Geld zu bezahlen, Kritiker reden hinter den Kulissen von „freikaufen“.
Aber es scheint vor allem an der Umsetzung zu hapern. Zunächst steckte sich die Gemeinschaft das Ziel, 10.000 Menschen auf freiwilliger Basis unter den Mitgliedstaaten aufzuteilen, einigen konnte man sich am Ende auf gut 8000 Geflüchtete. Zur Aufnahme von jeweils 3500 Menschen verpflichteten sich Deutschland und Frankreich. Dieses Ungleichgewicht allein demonstriert das Engagement einiger Mitgliedstaaten bei dem Streitthema. Paris zog wegen der Fehde vor zwei Wochen die Zusage dann zurück. Und in der Bundesrepublik kamen bislang tatsächlich erst 74 Menschen an. Insgesamt wurden überhaupt nur etwas mehr als 100 Flüchtlinge verteilt.
Sieht so der Gemeinschaftssinn der sogenannten Koalition der Willigen aus? Derweil nimmt der Druck zu. Seit Anfang des Jahres kamen mehr als 94.000 Menschen auf dem Weg über das zentrale Mittelmeer in Italien an – etwa 53 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Viele ziehen weiter. Dementsprechend ging auch die Zahl der neu gestellten Asylanträge EU-weit nach oben. Sie stieg im August um 54 Prozent verglichen mit dem Vorjahresmonat, wie das Statistikamt Eurostat bekannt gab. Die meisten Anträge wurden demnach in Deutschland registriert, gefolgt von Österreich und Frankreich.