Zu den Brüsseler Gipfeltraditionen gehört, dass die Staats- und Regierungschefs nach ihrer Ankunft den langen roten Teppich entlangschreiten und sich dann vor Dutzenden Fernsehkameras den Fragen der Presse stellen. Olaf Scholz gehört für gewöhnlich nicht zu jenen Politikern, die diese Momente besonders schätzen. An diesem Donnerstagmorgen aber nahm sich der Bundeskanzler mit zwölf Minuten ungewöhnlich lange Zeit im Scheinwerferlicht. Denn der SPD-Mann brachte eine Botschaft an die europäischen Partner zum Spitzentreffen mit: Es sei ihm wichtig, so sagte er, dass die im Frühjahr nach jahrelangen Verhandlungen verabschiedete EU-Asylreform „nicht nur allmählich umgesetzt wird, sondern forciert“.
Ausgerechnet Deutschland macht plötzlich Druck in Sachen Migration, nachdem die Bundesrepublik auf EU-Ebene jahrelang eher als Bremse betrachtet wurde. Doch seit dem Messeranschlag von Solingen ist zur Überraschung vieler Europäer offenbar alles anders. Nun fordert Scholz Tempo – und ruft alle in der Gemeinschaft dazu auf, dem Beispiel der Ampelregierung zu folgen. Man werde „die dazu notwendigen Gesetze sehr schnell dem Deutschen Bundestag zuleiten, aber es wäre gut, wenn das überall in Europa früher eingeführt werden kann“, sagte er. Eigentlich gilt eine Implementierungsfrist von zwei Jahren. Das neue europäische Migrationsrecht würde demnach erst ab Juni 2026 zur Anwendung kommen. Dabei bewerten einige Regierungen den Migrationspakt schon vor seiner Umsetzung als ungenügend. Berlin macht allen voran Druck auf Rom und Athen, Menschen zurückzunehmen, die dort erstmals in die EU eingereist, dann aber nach Deutschland weitergezogen sind.
Scholz will weitere Abschiebungen nach Afghanistan
Scholz verwies darauf, dass Deutschland in den letzten Monaten die Asylgesuche mit anderen Maßnahmen um fast 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesenkt habe. „Anpacken ist wahrscheinlich das Beste, statt Nichtstun und dann sich was ausdenken“. Auch bei der Rückführung von Migranten ohne Bleiberecht in Deutschland sei man vorangekommen. Scholz kündigte weitere Abschiebungen von Straftätern nach Afghanistan an. „Selbstverständlich können Straftäter aus dem Land nicht in Deutschland bleiben.“
Wie will die EU ihre Migrationspolitik künftig ausrichten? Es ist die Frage, die die Gemeinschaft nach den Erfolgen der Populisten in zahlreichen Ländern mehr denn je umtreibt. Der Rechtsruck scheint für so viel Angst zu sorgen, dass auf EU-Ebene ein Tabu nach dem anderen fällt. Es brauche „europäische Antworten“, war in Brüssel gebetsmühlenhaft von allen Seiten zu vernehmen. Tatsächlich gehen die Vorstellungen aber deutlich auseinander, wie man der Herausforderung der irregulären Migration begegnen soll. Lediglich bei einer Sache scheinen alle 27 EU-Länder auf einer Linie zu liegen: Die Regeln sollen deutlich verschärft werden, um die Zahl der in Europa ankommenden Menschen zu senken und abgelehnte Asylbewerber schneller zur Ausreise zu zwingen. Die EU-Kommission zielt auf sogenannte „return hubs“ ab, Abschiebezentren in sicheren Drittstaaten außerhalb der Gemeinschaft. Als Vorbild für die Auslagerung von Asylverfahren gilt Giorgia Melonis Abkommen mit dem EU-Beitrittsland Albanien. Scholz sieht das skeptisch. Er begründete das damit, dass man logistisch nur eine kleine Zahl von Asylverfahren auslagern könnte. „Klar ist, dass Konzepte, die ganz wenige, kleine Tropfen darstellen, wenn man die Zahlen anguckt, für ein so großes Land wie Deutschland nicht wirklich die Lösung sind“, sagte der Kanzler. Im letzten Jahr seien mehr als 300.000 Migranten irregulär nach Deutschland gekommen. Da seien „mal da 1000, mal da 2000“ zu wenig, wenn man diese Zahl deutlich reduzieren wolle.
Rückhalt für Selenskyj bröckelt
Bevor das Streitthema Migration eine lange Gipfelnacht bestimmen sollte, berieten die EU-Spitzen unter anderem über die Lage im Nahen Osten sowie die Ukraine. Es gab Zeiten, da galt Wolodymyr Selenskyj in Brüssel regelrecht als Politstar. Es gab kaum einen Staatenlenker, der sich nicht an die Seite des ukrainischen Präsidenten und damit in den Fokus der Aufmerksamkeit drängte. Doch diese Zeiten scheinen spätestens seit Donnerstag vorbei zu sein. Man müsse „Frieden durch Drohungen“ schaffen, warb er für die Unterstützung seines „Siegesplans“ gegen Russland. Höflich im Ton blieben die Staatenlenker, doch die fast schon aufgesetzte Freundlichkeit konnte nicht überdecken, dass die wichtigsten Mitgliedstaaten skeptisch auf die Pläne aus Kiew blicken. Vorneweg Deutschland lehnt den für die Ukraine zentralen Part ab: die Einladung zum Beitritt zur westlichen Verteidigungsallianz Nato.
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