Immer mehr Geflüchtete kommen nach Deutschland. Allein im Oktober hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 23.918 Asylerstanträge entgegengenommen – das ist ein Anstieg im Vergleich zum Vormonat um 27,8 Prozent. Im Vergleich zum Oktober des Vorjahres waren es 80 Prozent mehr. Zum Vergleich: Im Oktober 2016 stellten 30.864 Menschen einen Asylerstantrag. Dennoch zeigt sich, dass die Fluchtbewegung in Richtung Deutschland wieder deutlich anzieht – im Oktober 2022 wurden so viele Anträge gestellt wie seit fast sechs Jahren nicht mehr. Nicht eingerechnet sind Migranten aus der Ukraine. Die müssen keinen Antrag auf Asyl stellen, sie bekommen ohne Asylverfahren direkt einen Schutzstatus.
Die meisten Migranten kamen aus Syrien nach Deutschland, gefolgt von Afghanistan und der Türkei. Auffällig ist besonders die Entwicklung aus Richtung Türkei. Dort hat sich die politische und vor allem wirtschaftliche Lage in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Von Januar bis Oktober zählte das BAMF 15.018 Asyl-Erstanträge von türkischen Staatsbürgerinnen und -bürgern, der höchste Wert seit über 20 Jahren und mehr als doppelt so viele wie im gesamten Vorjahr. Das bekommt auch die Bundespolizei an den Grenzen zu spüren. Die für Bayern zuständige Bundespolizeidirektion München hat im Zeitraum von Januar bis einschließlich September dieses Jahres mehr als 2200 versuchte unerlaubte Einreisen türkischer Staatsbürger registriert. Im gesamten vergangenen Jahr waren es mehr als 1100 Fälle. Auch an der deutsch-schweizerischen Grenze ist die Zahl der illegalen Einreisen sprunghaft gewachsen: Im Oktober waren es 1739 – doppelt so viele wie im Vormonat. Allerdings stellen nicht alle dieser Menschen auch einen Asylantrag. Hinzu kommt: Gerade einmal ein Drittel der türkischen Asylsuchenden erhält einen Schutzstatus, das heißt, sie werden als asylberechtigt anerkannt oder zumindest nicht abgeschoben.
Viele Migranten reisen über die Balkanroute
„Gründe für die gegenwärtige Entwicklung sind unter anderem Nachholeffekte nach den Reisebeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie“, teilt eine Sprecherin des BAMF mit, aber auch die Verschärfung der wirtschaftlichen bzw. innenpolitischen Lage in vielen Ländern führt zu verstärkten Migrationsbewegungen. Das lässt den Druck nicht nur in Deutschland, sondern insgesamt an den EU-Außengrenzen steigen. Im Fokus der Verantwortlichen in Brüssel steht die Westbalkanroute, jener Landweg, den viele Flüchtlinge vor allem aus dem Nahen Osten für ihre Reise nach Mitteleuropa wählen. Den Korridor hat die EU-Grenzschutzagentur Frontex als „aktivste Migrationsroute in die EU“ ausgemacht. Allein im September wurden 19.160 Personen gezählt und damit doppelt so viele wie im Vorjahresmonat, wie die Behörde am Donnerstag bekannt gab. Zusammengerechnet registrierte Frontex in den ersten neun Monaten 106.396 Menschen, die auch hier hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan und der Türkei stammten.
Die Schuld für die gestiegenen Zahlen sehen EU-Politiker unter anderem in der Visa-Politik einiger Balkanstaaten, insbesondere Serbiens. So können Menschen etwa aus Indien, Kuba, Tunesien oder Burundi visafrei mit dem Flugzeug in Serbien landen und anschließend mit Schleppern in einen der 27 Mitgliedstaaten weiterreisen. Die EU fordert, dass Serbien seine Visapraxis anpasst, aber in Belgrad scheint man unbeeindruckt von der Kritik. Präsident Aleksandar Vucic hatte zwar kürzlich eine Änderung der Visa-Politik bis Jahresende in Aussicht gestellt, sich aber mit konkreten Details zurückgehalten.
Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland haben wieder zugenommen
Das lässt auch die Probleme in Deutschland wachsen. Denn längst fühlen sich viele Kommunen am Rand ihrer Möglichkeiten. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl spricht von einer „Unterbringungskrise“. „Es gibt bei den Kommunen massive Engpässe bei der Unterbringung der Geflüchteten“, betont Karl Kopp, Europareferent von Pro Asyl. Nach Ansicht von Kopp könnten Notunterkünfte nicht die Lösung sein, erst recht nicht Zelte oder Turnhallen, die man Schülern und Sportvereinen vorenthalte, die bereits während der Pandemie Opfer bringen mussten. „Und wir können nicht Frauen und Kinder wochenlang in Großunterkünften de facto menschenunwürdig unterbringen.“ Stattdessen müssten die Kommunen in die Lage versetzt werden, schnell menschenwürdige Wohneinheiten zu schaffen – etwa durch Module oder Container.
Zwar ist das Thema Migration in der öffentlichen Debatte weit weniger präsent als in den Jahren 2015/2016, doch das könnte sich ändern: Die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland haben in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen. Im zweiten und dritten Quartal dieses Jahres wurden bundesweit 46 derartige Attacken registriert – weitaus mehr als im entsprechenden Zeitraum der beiden Vorjahre. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linken hervor. Im vergangenen Jahr waren insgesamt 70 Übergriffe auf Asylunterkünfte registriert worden.
Diese Zahl dürfte bis Jahresende überschritten werden, da es schon zu Beginn des vierten Quartals weitere Fälle gab: So brannte im Oktober eine Flüchtlingsunterkunft nahe Wismar nieder. In Bautzen wurde wenige Tage später ein Brandanschlag auf ein ehemaliges Hotel verübt, in das ebenfalls Flüchtlinge einziehen sollten. Bislang ist das Ausmaß der Übergriffe aber noch nicht mit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise vergleichbar. Im Jahr 2015 hatte es deutschlandweit mehr als 1000 Angriffe auf die Unterkünfte von Geflüchteten gegeben.