Die niederländische Regierung von Ministerpräsident Mark Rutte ist im Streit um die Migrationspolitik zerbrochen. Der Premier erklärte am Freitagabend in Den Haag den Rücktritt seiner Regierung. Die Unterschiede bei den vier Koalitionsparteien bei der Migrationspolitik seien unüberbrückbar. Er bedauerte diesen Schritt, aber dies sei "eine politische Realität". Rutte ließ offen, ob er erneut bei einer Neuwahl antreten werde.
Rutte wollte noch am selben Abend König Willem-Alexander schriftlich den Rücktritt des Kabinetts anbieten. Der König wird seinen Urlaub unterbrechen und Rutte heute persönlich im Palast empfangen.
Es war die vierte Regierung des Rechtsliberalen. Sie war seit Anfang 2022 im Amt. Rutte selbst ist seit knapp 13 Jahren Regierungschef der Niederlande. Neuwahlen werden nach Einschätzung von Beobachtern erst im November stattfinden.
Vertrauenskrise in der niederländischen Politik
Knackpunkt bei der abendlichen Krisensitzung in Den Haag war eine Beschränkung des Familiennachzugs von Flüchtlingen, die sich bereits im Land aufhalten und die Ruttes rechtsliberale Partei VVD gefordert hatte. Diese Forderungen gingen den anderen Parteien zu weit. Insbesondere die konservative ChristenUnion pochte auf die Möglichkeit für Kinder von Bürgerkriegsflüchtlingen, zu ihren Eltern in die Niederlande zu kommen.
Die Niederlande kämpfen mit einer vor allem hausgemachten Asylkrise: Im vergangenen Jahr waren es nach Behördenangaben rund 47.000 Menschen, die dort Asyl suchten - keine außergewöhnlich hohe Zahl. 2015 waren noch rund 60.000 registriert worden. Doch um zu sparen, hatte die Regierung Personal und Plätze in Aufnahmezentren gestrichen. Die Wartezeit für die Bearbeitung der Asylanträge wurde immer länger. Zusätzlich sorgt die allgemeine Misere auf dem Wohnungsmarkt dafür, dass kaum Plätze in den Wohnheimen frei werden.
Inmitten einer großen Vertrauenskrise in der niederländischen Politik wird der Asylstreit aber auch als ein vorgeschobener Grund für das Auseinanderbrechen der Regierung gesehen. Bei vielen wichtigen Themen, die den Menschen in den Niederlanden unter den Nägeln brennen, werden von der Vier-Parteien-Regierung kaum Entscheidungen getroffen, alles stockt. Neben der Migrationspolitik sind dies die Wohnungsnot, die Energiewende sowie die Klimapolitik. Einer der großen Konflikte ist die Zukunft der Landwirtschaft angesichts angekündigter Umweltauflagen.
Ruttes Zukunftspläne offen
Der 56 Jahre alte Rutte ist nach knapp 13 Jahren im Amt des Ministerpräsidenten einer der am längsten amtierenden Regierungschefs der EU. Seit Januar 2022 führte er sein viertes Kabinett nach Koalitionsverhandlungen, die gut neun Monate gedauert hatten und damit die längsten in der Geschichte des Landes waren. Insgesamt vier Parteien waren nötig, um eine Mehrheit in der Zweiten Kammer des Parlaments zu erreichen: das waren Ruttes rechtsliberale VVD, die linksliberale D66, die christdemokratische CDA und die kleine ChristenUnion.
Nach zahlreichen Krisen waren die Umfragewerte der Koalition stark gesunken. Bei der jüngsten Provinzialwahl im März, bei der auch die Erste Kammer des Parlaments - vergleichbar dem Bundesrat - gewählt wurde, hatten alle Regierungsparteien deutliche Verluste verbucht. Großer Wahlsieger wurde die rechtspopulistische Bauerbürgerbewegung BBB, die auf Anhieb stärkste Kraft wurde. In der Zweiten Kammer ist die BBB nur mit einer Abgeordneten vertreten. Bei einer Neuwahl wird der Partei großer Erfolg vorhergesagt.
Sollte Ruttes Absicht sein, bei einer Neuwahl ein fünftes Mal ins Rennen um das Premierministeramt zu gehen, könnte hinter dem Hochkochenlassen des Asylstreits auch Strategie gesteckt haben, mutmaßen Beobachter. Das Kalkül könnte sein, mit dem Reizthema Profil zu gewinnen und von der neuen Kraft auf der rechten Seite, der BBB, Wähler zurückzugewinnen. Beobachter schließen auch nicht aus, dass Rutte auf andere Regierungspartner setzt - und nach den Umfragen könnte er die vor allem auf der äußerst rechten Seite finden. Doch vorerst legte sich der Premier bei seinen Zukunftsplänen nicht fest.
(Von Annette Birschel und Michael Evers, dpa)