Persönlich gehe es ihr gut, sagt Angela Merkel. Doch sie sei manchmal bedrückt, wie wohl viele Menschen. "Mit dem 24. Februar ist natürlich eine Zäsur entstanden", sagt die Altkanzlerin.
Russlands Angriffskrieg dominiert auch dieses besondere Gespräch am Abend des 7. Juni. Das Interview, das Phoenix live im Fernsehen überträgt, ist Merkels erster großer öffentlicher Auftritt seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft vor einem halben Jahr. Organisiert haben die Veranstaltung der Aufbau Verlag und das Berliner Ensemble, in dessen Theater sie stattfindet. Es ist das erste Mal, dass sich Merkel als Altkanzlerin den Fragen eines Journalisten stellt, in diesem Fall denen von Spiegel-Reporter und Schriftsteller Alexander Osang.
Der fragt, gibt Merkel aber auch viel Zeit. So erzählt die Altkanzlerin, sie denke oft an ein Treffen mit Putin Anfang 2007 in Sotschi zurück. Dort habe ihr der russische Präsident zum ersten Mal gesagt, dass der Zerfall der Sowjetunion für ihn das Schlimmste im 20. Jahrhundert gewesen sei. Sie habe ihm gesagt, für sie, die in Ostdeutschland aufwuchs, sei das hingegen der größte Glücksumstand ihres Lebens, das Erlangen ihrer Freiheit gewesen. "Es war klar, dass dort ein großer Dissens ist", sagt Merkel nun. Dieser Dissens zwischen den Staaten des Westens und Russland habe sich immer fortentwickelt, sei nie aus der Welt geschafft worden. Merkel sagt: "Es ist nicht gelungen in all den Jahren, den Kalten Krieg wirklich zu beenden."
Merkel über Russlands Krieg: "Brutaler, das Völkerrecht missachtender Überfall"
Dann ist der Moment des Abends, in dem Merkel besonders ernst wird und den Krieg in der Ukraine in aller Deutlichkeit verurteilt. "Dieser Überfall findet keinerlei Rechtfertigung", sagt sie. "Das ist ein brutaler, das Völkerrecht missachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt."
Und ihre eigene Rolle? Schließlich steht seit dem Kriegsbeginn auch Merkels Russlandpolitik oft in der Kritik. Sie sagt, nach dem Überfall habe sie sich gefragt: "Hätte man noch mehr tun können, um eine solche Tragik – ich halte diese Situation jetzt schon für eine große Tragik – hätte man das verhindern können?"
Phoenix-Interview: Merkel wehrt sich gegen den Vorwurf, Putin unterschätzt zu haben
Merkel wehrt sich aber gegen Vorwürfe, sie sei blauäugig gewesen, habe Putin unterschätzt. Ihr sei klar gewesen, dass Putins Hass, Putins Feindschaft, gegen das demokratische System des Westens gerichtet ist. Sie habe verschiedenen Partnern immer wieder gesagt: "Ihr wisst, dass er Europa zerstören will. Er will die Europäische Union zerstören, weil er sie als Vorstufe zur Nato sieht." Aber man könne gleichzeitig nicht so tun, als gebe es Putin und Russland nicht. Als Bundeskanzlerin habe sie versucht, einen Weg zu finden, wie man mit Russland bei allen Differenzen koexistieren könne.
Der Weg der Diplomatie sei der richtige gewesen, auch wenn er nicht gelungen sei, sagt Merkel. "Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde deshalb auch mich nicht entschuldigen." Sie sei froh, dass sie so viel versucht habe, um eine Eskalation zu verhindern und dass sie immer im Gespräch mit Putin geblieben ist. Deswegen, so Merkel, mache sie sich keine Vorwürfe. "Ich habe es glücklicherweise ausreichend versucht. Es ist eine große Trauer, dass es nicht gelungen ist."
Was ihr trotz allem ein gutes Gefühl gebe: Dass die Regierungsübergabe ihrer Meinung nach sehr gut verlaufen sei. "Ich mag mir gar nicht vorstellen, ich hätte kein Vertrauen in die jetzige Bundesregierung", sagt Merkel. Doch das habe sie, und das mache es ihr leichter.
Und wie viel Macht, wie viel Kontakte in die Regierung, hat die Altkanzlerin noch? Wenn etwas passiere, das in die vollkommen falsche Richtung gehe, gäbe es viele, die sie anrufen könne, so Merkel. "Das musste ich aber noch nicht."
Merkel über Zeit nach der Kanzlerschaft: Sie habe die Tage "gut rumbekommen"
Im Interview gibt Merkel auch persönliche Einblicke über die Zeit nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft. Sie fuhr an die Ostsee, fünf Wochen, entdeckte Hörbücher für sich und war positiv überrascht, dass sie die Tage "gut rumbekommen" habe, so ganz ohne Termine. Langweilig sei ihr nicht geworden.
Über diese Themen spricht sie locker, überhaupt bringt sie das Publikum immer wieder zum Lachen. Etwa, als sie erklärt, warum es wieder die Ostsee geworden ist: "Weil die Leute dort an mich gewöhnt sind, sind sie auch sehr schweigsam."
Aktuell, so erklärt es Merkel, suche sie noch nach ihrem Weg. "Was ist eine Bundeskanzlerin a.D.?" Was für sie klar sei: Es sei nicht ihre Aufgabe, Kommentare von der Seitenlinie zu geben. Als Ex-Kanzlerin sei sie keine ganz normale Bürgerin. Sie müsse aufpassen, wie sie sich zu aktuellen Themen äußere, denn es werde sehr darauf geachtet, was sie sage. Und sie wollen bei künftigen Terminen nun auch darauf achten, was ihr Freude mache. Wenn sie jetzt lese, sie mache nur noch "Wohlfühltermine", dann sage sie: "ja."