In der ganzen Republik soll künftig ein Netz aus rund 1000 Gesundheitskiosken entstehen, um die medizinische Vorsorge zu stärken. Beratung steht in solchen kleinen Praxen im Vordergrund, dort werden aber auch einfache medizinische Routineaufgaben erledigt, etwa Blutdruck und Blutzucker messen, Verbände wechseln oder Spritzen verabreichen. Das Angebot richte sich vor allem an Patientinnen und Patienten in sozial benachteiligten Regionen, so Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Mittwochnachmittag.
Der SPD-Politiker betonte: „Gesundheit ist eine der wichtigsten sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts. Auch unter wirtschaftlichem Druck muss es uns gelingen, in einer alternden Gesellschaft das Solidarsystem zusammenzuhalten." In Deutschland dürften weder Geldbeutel noch Wohnort über die Behandlung von Patientinnen und Patienten entscheiden. Lauterbach weiter: "Gesundheitskioske können dabei einen entscheidenden Unterschied machen."
In Deutschland gibt es viele kranke Menschen, aber wenig Ärzte
Dass Lauterbach die Initiative in Hamburg-Billstedt vorstellte, ist kein Zufall. Billstedt gilt als Problemviertel, das Einkommensniveau liegt 40 Prozent unter dem Schnitt der Hansestadt, jeder fünfte Bewohner lebt von Hartz IV, der Anteil der Menschen, die keinen deutschen Pass haben, ist hoch. Es mangelt an Haus-, Kinder- und Facharztpraxen. Die unzureichende Gesundheitsvorsorge ist einer der Gründe, warum die durchschnittliche Lebenserwartung in Billstedt Statistiken zufolge zehn Jahre geringer ist als in den wohlhabenderen Hamburger Vierteln.
Viele kranke Menschen, wenig medizinische Angebote – vor diesem Hintergrund hat Alexander Fischer den bundesweit ersten Gesundheitskiosk entwickelt, der 2017 in einem ebenerdigen Ladengeschäft in einer belebten Billstedter Einkaufsstraße startete. Der Gesundheitsökonom hat in Köln studiert, zu seinen Professoren zählte: Karl Lauterbach. Fischers Überzeugung ist, dass Gesundheitsversorgung vor allem da stattfinden sollte, wo die meisten kranken Menschen leben. Und nicht dort, wo die wohlhabendsten Menschen wohnen und Arztpraxen besonders lukrativ sind.
Gesundheitskioske: Beratung und Vorsorge stehen im Vordergrund
Ziel der Gesundheitskioske ist es Fischer zufolge aber nicht, niedergelassenen Ärzten oder Kliniken Konkurrenz zu machen. Im Vordergrund stehen Beratung und Vorsorge, bislang keine Stärken des deutschen Gesundheitswesens. Mehrsprachige Gesundheitsfachleute, die ihren Hintergrund in verschiedenen Pflegeberufen haben, nehmen sich dem Konzept zufolge ausführlich Zeit, um etwa den richtigen Facharzt oder das passende Krankenhaus zu finden, anschließend übersetzen sie die Befunde, geben Tipps für die gesunde Ernährung bei Diabetes, erklären, was sich gegen Bluthochdruck oder chronische Rückenschmerzen tun lässt.
Während der Corona-Pandemie habe die Einrichtung schnell Impfangebote ermöglicht und dazu beigetragen, die Gesundheitskompetenz „in allen Teilen der Gesellschaft“ zu steigern und Informationen leichter zugänglich zu machen – sagt zumindest Gründer Alexander Fischer. Doch auch die Universität Hamburg hat der Arbeit des Zentrums in Billstedt inzwischen "messbare Erfolge" bescheinigt. Durch die Angebote könnten die Kosten im Gesundheitswesen sinken, etwa durch weniger Arztbesuche und geringere Ausgaben für Arzneimittel und eine sinkende Zahl der Krankenhausbehandlungen.
Vorbilder für die Kioske gibt es etwa in Finnland, Kanada oder den USA. Offenbar hat die Idee seines ehemaligen Studenten den heutigen Gesundheitsminister schwer beeindruckt, denn das Vorhaben, Gesundheitskioske bundesweit einzuführen, schaffte es in den Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP. Die Umsetzung bietet für Karl Lauterbach auch die Chance, eine politische Duftmarke zu setzen, die ausnahmsweise nur am Rande mit der Corona-Pandemie zu tun hat.
Krankenkassen haben Bedenken
Von den Krankenkassen, die die Kioske zusammen mit den Kommunen finanzieren sollen, kommt Lob, aber auch Kritik. Sie begrüße, dass Gesundheitskioske "als niedrigschwelliges Beratungsangebot in sozialen Brennpunkten bundesweit aufgebaut werden sollen", sagte Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK Bundesverbandes. Doch wenn der Gesundheitskiosk primär als Verlängerung der Arztpraxis angesehen und auf deren Veranlassung tätig werde, "gefährdet dies den niedrigschwelligen Zugang". Der Kassenchefin zufolge sollten medizinische Routineaufgaben wie Blutdruckmessen in den Kiosken nicht im Vordergrund stehen. Sonst werde die medizinische Versorgung "weiter zersplittert", warnte sie.