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London: Skandale, Pannen, Lügen: Wie Boris Johnson letztlich scheiterte

London

Skandale, Pannen, Lügen: Wie Boris Johnson letztlich scheiterte

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    Das Gesicht spricht Bände: Boris Johnson am Donnerstag beim Verlesen seiner Rücktrittserklärung – als Parteivorsitzender – vor dem Amtssitz in der Downing Street.
    Das Gesicht spricht Bände: Boris Johnson am Donnerstag beim Verlesen seiner Rücktrittserklärung – als Parteivorsitzender – vor dem Amtssitz in der Downing Street. Foto: Stefan Rousseau, PA Wire

    Es war eine kurze Rede, mit der Boris Johnson am Donnerstag seinen Rücktritt ankündigte. Vor der schwarzen Tür der Downing Street 10 stehend wirkte er mit seinem zugeknöpften Jackett aufgeräumter als sonst. Ansonsten präsentierte er sich jedoch wie immer: Optimistisch verwies er auf seine Erfolge. Er sei „ungeheuer stolz auf die Errungenschaften dieser Regierung“ – dass sie den Brexit durchgezogen hatte, die Pandemie gemeistert und das Impfprogramm vorangetrieben habe. Und: Johnson machte klar, dass er nicht freiwillig geht. Er habe versucht, seinen Ministern klarzumachen, dass es der falsche Zeitpunkt sei, um einen Nachfolger zu suchen. Er sei traurig, „den besten Job in der Welt“ aufzugeben. Reue zeigte der 58-Jährige nicht.

    Johnson kündigte bei seiner Ansprache am Donnerstag außerdem an, dass er zwar geht, aber noch nicht gleich. Er will weiter regieren, bis ein Nachfolger gefunden ist. Ein Vorgehen, das zwar üblich, in der aktuellen Situation jedoch höchst umstritten ist. Viele Torys waren darum am Donnerstag der Meinung, dass Johnson besser gleich aus der Downing Street ausziehen und stattdessen ein sogenannter „Caretaker” die Regierung leiten sollte, ein Übergangschef.

    Der konservative Abgeordnete Simon Hoare schrieb etwa auf Twitter: „Es ist unbegreiflich, dass Herr Johnson im Amt bleiben kann. Er muss gehen, und gehen bedeutet gehen.“ Auch der Labour-Oppositionschef Keir Starmer forderte den sofortigen Rückzug. Denn die Suche nach einem neuen konservativen Parteivorsitzenden kann Monate dauern, während Johnson zwar im Amt bleibt, aber keinerlei Autorität mehr hat.

    Vor zwei Wochen hatte Johnson während einer Reise nach Ruanda noch darüber gescherzt, dass er noch mindestens bis in das Jahr 2030 Premierminister bleiben wolle. Die Realität sieht nun anders aus. Nachdem seit Dienstag mehr als 50 Minister, Abgeordnete und Mitarbeiter zurückgetreten waren, wuchs der Druck auf Johnson massiv. Damit blieb ihm letztlich nichts anderes übrig, als seinen Rücktritt zu erklären.

    Zahlreiche Abgeordnete kehrten Boris Johnson den Rücken

    Gegen seinen Willen. Johnson beschrieb es so: „In Westminster ist der Herdeninstinkt stark, und wenn sich die Herde bewegt, bewegt sie sich.“ Es war klassisch Johnson: Alle tragen Schuld an der Krise – außer er.

    In Gang gesetzt hatten den politischen Sturm Schatzkanzler Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid, als sie am Dienstagabend ihr Amt niederlegten. Sie teilten dem Premier in ihrem Rücktrittsschreiben mit, dass es so nicht weitergehen könne, und bezogen sich damit auf den Skandal um den konservativen Abgeordneten Christopher Pincher. Johnson hatte ihm im Februar dieses Jahres den Posten des stellvertretenden Parlamentarischen Geschäftsführers verschafft, obwohl er wusste, dass ihm schon in der Vergangenheit sexuelle Übergriffe vorgeworfen worden waren. Johnson leugnete dies jedoch tagelang, gab sich trotz zahlreicher Anschuldigungen ahnungslos, mal wieder.

    Nach dem Abgang von Javid und Sunak stürzte die Autorität Johnsons zusammen wie ein Kartenhaus. Die Zahl der Rücktritte von Ministern und Abgeordneten stieg stündlich. Der Fernsehsender BBC News blendete die aktuelle Anzahl ununterbrochen ein, so rasch änderte sich die Lage. Schließlich besuchte am Mittwochabend eine Delegation von Ministern, darunter auch Innenministerin Priti Patel, Boris Johnson in der Downing Street 10, um ihn zur Aufgabe zu bewegen. Vergeblich. Nach dem Treffen herrschte unter den Torys Frustration, vor allem aber Wut und Fassungslosigkeit darüber, dass der Premierminister keine Einsicht zeigte. Sie beschrieben sein Verhalten als „würdelos und egoistisch“. Umso größer war am Donnerstag zunächst die Erleichterung über die Kehrtwende: Johnson wollte noch am selben Tag sein Amt abgeben. Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Torys. Keir Starmer begrüßte den Rücktritt als „gute Nachricht für das Land“. Doch wie groß ist das Chaos, das Johnson hinterlässt? Denn bedingt durch die vielen Rücktritte wird die Regierungsarbeit nun deutlich erschwert – oder de facto unmöglich. Zudem zeigte sich die Partei empört über Johnsons Machtbesessenheit. Sein Versäumnis, sich in den letzten Tagen der Realität zu stellen, führte zu Vergleichen mit Donald Trump und Wladimir Putin. Der Schaden für die Partei, er wird bleiben.

    Boris Johnson "Westminsters liebenswertester Clown"

    Lange Zeit hatte die Partei dabei über die Verfehlungen Johnsons hinweggesehen. Es gibt ein berühmtes Foto von Boris Johnson aus seiner Zeit als Bürgermeister von London: Johnson hängt darauf in einer defekten Seilbahn fest, er grinst Richtung Boden, in jeder Hand hält er eine Union-Jack-Fahne. Die Aufnahme, entstanden am Rand der Olympischen Spiele 2012, wurde zum Internet-Hit und machte den damaligen Financial Times damals, werde Johnsons Ruf als „Westminsters liebenswertester Clown“ nur stärken.

    Jetzt ist das Bild wieder tausendfach zu sehen. Das britische Magazin Economist hat es auf seine nächste Titelseite gepackt. Die Überschrift: „Clownfall“, ein Spiel mit dem Begriff „Downfall“. Der Clown, so die Botschaft, ist am Ende, sein Absturz nicht mehr zu verhindern. Dabei erschien der Premierminister zuletzt so unkaputtbar, so sehr Stehaufmännchen, dass selbst die für ihre oft brachiale Wortwahl bekannten Briten zu immer drastischeren Metaphern griffen: Der schottische Politiker Ian Blackford verglich ihn mit dem Schwarzen Ritter, jenem Kämpfer aus dem Monty-Python-Film „Die Ritter der Kokosnuss“, der nicht aufgibt, bis König Artus ihm alle Glieder abgeschlagen hat. Und der Tory-Abgeordnete Andrew Mitchell sagte der BBC: „Es ist ein wenig wie bei Rasputin. Der wurde vergiftet, mit Messern und Schusswaffen verwundet, in einen eiskalten Fluss geworfen – aber er war danach immer noch am Leben.“

    Dass es seiner Partei am Ende doch gelungen ist, ihn aus dem Amt zu treiben, muss für Johnson selbst die größte Überraschung sein. War er doch bisher in seinem Leben mit allen kleinen Provokationen und großen Lügen durchgekommen, solange sie nur mit ausreichend Humor und Charme überspielt wurden. Schon seine Lehrer am renommierten Internat Eton trieb er nach Aussage von Zeitgenossen mit seiner „schändlich unbekümmerten Haltung“ zum Schulbetrieb zur Weißglut. Auch in Oxford, wo Johnson vier Jahre lang studierte, soll er es mit der Wahrheit nicht so genau genommen haben: Wie sein Biograf Andrew Gimson berichtet, gab er sich vor Studierenden, die ihn zum Präsidenten des Debattierclubs

    Boris Johnson flog bei der Times raus, weil er ein Zitat erfunden hatte

    Eine Anstellung bei der altehrwürdigen Times nach dem Studium endete mit einer Kündigung, nachdem der junge Reporter ein Zitat in einem Artikel kurzerhand erfunden hatte. Und auch in seiner Zeit als Brüssel-Korrespondent für den Daily Telegraph hielten Kollegen dem späteren Brexit-Hardliner immer wieder vor, seine Texte mit unwahren Behauptungen über die Europäische Union zu spicken.

    Boris Johnson, bald Ex-Premierminister von Großbritannien.
    Boris Johnson, bald Ex-Premierminister von Großbritannien. Foto: Peter Byrne/PA Pool/AP, dpa

    Nichtsdestotrotz wurde Johnson in den Nullerjahren zum TV-Liebling, zu jenem Polit-Clown, der sich eben bei den Olympischen Spielen 2012 der Welt präsentierte. Politische Enthüllungen und Skandale um außereheliche Affären saß er aus, leugnete, bis es nichts mehr zu leugnen gab, und entschuldigte sich anschließend mit reuiger Miene. Nachdem er den Torys 2019 mit seinem Motto „Get Brexit Done“ zu einem historischen Sieg verholfen hatte, galt er tatsächlich als Gewinner. Auch Britinnen und Briten hatten ihm seine Schwächen und seinen eigenwilligen Umgang mit der Wahrheit dann noch oft verziehen. Boris eben. Schließlich gehörten Patzer und Pannen dazu, er war absichtlich unfrisiert und nahm es mit der Wahrheit nicht so genau. Warum die Briten so großzügig waren, erklärte Tim Bale von der Queen-Mary-Universität in London gegenüber unserer Redaktion einst so: Der 58-Jährige sei ein „besonderer“ Premier. „Er war schon berühmt, bevor er Premierminister wurde.“ Deshalb legten viele andere Maßstäbe an ihn an. „Man ist von ihm fasziniert. Er ist die Art Mensch, mit dem man gerne mal ein Bier trinken gehen will.“ Beobachter verglichen ihn immer mal wieder mit dem auf der Insel bekannten dunkel-klebrigen Brotaufstrich „Marmite“, den man entweder hasst oder liebt.

    Zweifel an Johnsons Integrität mehrten sich mit der Zeit aber immer mehr. In seiner Zeit als Premier spitzte sich die Lage unter anderem zu, als er versuchte, den Abgeordneten Owen Patterson nach Korruptionsvorwürfen vor einer Suspendierung zu bewahren. Kurz darauf vergaß Johnson bei einer Wirtschaftskonferenz in London seinen Text. 20 Sekunden dauerte es, bis er wieder wusste, was er sagen wollte. Dann berichtete er ausschweifend von seinem Wochenendausflug in einen Vergnügungspark namens „Peppa Pig World“. Ein Reporter richtete im Anschluss eine Frage an Johnson, die man als Premierminister eigentlich nicht gestellt bekommen möchte: „Ist alles o.k. mit Ihnen?“ Dieser reagierte gelassen: „Ich denke, die Rede kam ganz gut an.“ Ganz gut an kam die Rede jedoch allenfalls in den sozialen Medien. Denn dort wurde sie massenhaft geteilt und mit spöttischen Kommentaren versehen.

    Nach den Lockdown-Partys geriet Boris Johnson zunehmend unter Druck

    Die schlimmste Krise seiner Amtszeit begann jedoch, nachdem Johnson im Herbst vergangenen Jahres behauptet hatte, nichts von Partys während der Lockdowns in der Downing Street 10 gewusst zu haben. Die Beamtin Sue Gray recherchierte, schließlich nahm auch die Metropolitan Police Ermittlungen auf. Anfang des Jahres erhielt Johnson ein Bußgeld, beendet war der Skandal damit aber nicht. Eine Untersuchungskommission sollte nach wie vor herausfinden, ob Johnson das Parlament belogen hatte, als er sich bezüglich der Feiern ahnungslos gab. Die Folge von „Partygate“ waren sinkende Umfragewerte für die Torys und schlechte Ergebnisse für die Partei bei den Regionalwahlen im Mai dieses Jahres.

    Das vom britischen Cabinet Office herausgegebene Handout-Foto vom 13.11.20 zeigt Premierminister Boris Johnson bei einer Zusammenkunft in Downing Street 10 anlässlich der Verabschiedung eines Sonderberaters.
    Das vom britischen Cabinet Office herausgegebene Handout-Foto vom 13.11.20 zeigt Premierminister Boris Johnson bei einer Zusammenkunft in Downing Street 10 anlässlich der Verabschiedung eines Sonderberaters. Foto: Sue Gray Report/Cabinet Office/PA Media, dpa

    Wer könnte Boris Johnson ersetzen, sollte er denn wirklich einmal gehen? Als aussichtsreicher Bewerber gilt unter anderem Nadhim Zahawi, der frischgebackene Finanzminister. Zahawi war innerhalb der Regierung für das Covid-Impfprogramm zuständig und hinterließ als Erziehungsminister einen kompetenten Eindruck. Manche vermuten jedoch, dass er seine Chancen auf das Amt gesenkt hat, indem er den Posten unter Johnson übernahm, nur um ihn einen Tag später zum Rücktritt aufzufordern. Als Favorit gilt außerdem der ehemalige Außen- und Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Viele beschreiben ihn als anständig und erfrischend. Brexiteers stehen ihm jedoch skeptisch gegenüber. Gute Chancen soll überdies die Handelsministerin Penny Mordaunt haben, die für eine neue Generation von Konservativen steht. Ihr Problem ist aber, dass sie in den vergangenen Tagen an ihrem Amt festhielt und deshalb womöglich in Zukunft weniger Unterstützung erfährt.

    Johnson kündigte in seiner Rede am Donnerstag an, dass er die Partei bei der Suche nach einem Nachfolger unterstützen wolle – bevor er wieder in der Downing Street 10 verschwand. Dass er dort bald ausziehen wird, steht nun fest. Wann das passiert, ist aber offen.

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