Nein, längst nicht alles ist falsch, was Christian Lindner in seinem Thesenpapier für eine sogenannte „Wirtschaftswende“ aufgeschrieben hat. Bürokratie-Stopp und niedrigere Unternehmenssteuern – natürlich kann das helfen, deutsche Firmen wettbewerbsfähiger zu machen. Auch die Forderung nach Streichung des Solidaritätszuschlags, diesen etwas angestaubten FDP-Kassenschlager, darf man Lindner durchgehen lassen, immerhin ist er ja auch Parteichef. Und sogar über die Anregung, beim Klimaschutz künftig allein auf Preiseerhöhungen im Gleichklang mit den EU-Partnern zu setzen, mag man diskutieren (wenn man dabei den sozialen Ausgleich nicht vergisst) – immerhin drohen mit der Ausweitung des europäischen Emissionshandels auf Gebäude und Verkehr ab 2027 tatsächlich deutlich höhere Preise für klimaschädliches Heizen und Tanken.
Das Problem des Papiers ist weniger der Inhalt als die Frage, was Lindner damit bezweckt. Will er einfach die Vorstöße von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ergänzen, der eine Art Prämie für Unternehmensinvestitionen ins Spiel gebracht hat? Dann könnten die beiden sich am Mittwoch beim Koalitionsausschuss mit Kanzler Olaf Scholz darüber beugen und sehen, was in der Ampel machbar ist – und was nicht. Normales Geschäft, zumal in Krisenzeiten für den Standort Deutschland.
Lindners Wirtschaftswende: Debatte innerhalb der Ampel-Koalition
Viel spricht allerdings dafür, dass Lindner das Papier zumindest mit dem bedingten Vorsatz geschrieben hat, die Ampel-Koalition zu sprengen - entweder, indem die FDP austritt, oder, indem er einen Rauswurf durch den Kanzler provoziert. Allein: Erste Einlassungen, etwa von Seiten des SPD-Chefs Lars Klingbeil im Gespräch mit unserer Redaktion, legen nahe, dass Scholz ihm diesen Gefallen nicht tun wird. Warum sollte er auch? Für den Kanzler macht ein vorzeitiges Ende seiner Regierung überhaupt keinen Sinn, zumal angesichts der derzeit dürftigen Umfragewerte seiner Partei.
In Wahrheit landet Lindner mit seinem Papier im strategischen Nichts. SPD und Grüne können einige seiner Ideen diskutieren, andere abmoderieren. Dann steht er wieder da wie zuvor. Oder er wirft hin. Dann geht die FDP in einen Wahlkampf, an dessen Ende völlig unsicher ist, ob sie die Fünf-Prozent-Hürde noch einmal nimmt, oder, wie zuletzt 2013, aus dem Bundestag fliegt. In diesen düsteren Aussichten liegt der entscheidende Unterschied zum sogenannten Lambsdorff-Papier vom September 1982, das in diesen Tagen immer wieder beschworen wird.
Otto Graf Lambsdorff hatte 1982 ein Papier geschrieben
Ähnlich wie heute Lindner, hatte Otto Graf Lambsdorff, damals Wirtschaftsminister in der sozialliberalen Koalition Helmut Schmidts, die wirtschaftspolitischen Wunschvorstellungen der Liberalen in einem Papier zusammengefasst. Doch anders als heute, konnte sich die FDP damals sicher sein, dass ein Partner bereitstand, mit dem sie diese Ideen auch tatsächlich umsetzen konnte – Helmut Kohl und die Union. Dieser Umstand war es, der den Thesen des alten Lambsdorff Schlagkraft verlieh (auch wenn er sein Ziel, die Arbeitslosigkeit deutlich zu senken, am Ende nicht erreichte).
1982 konnten die Liberalen die Union damit locken, Helmut Kohl mit Hilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums umgehend zum Kanzler zu wählen. Im gegenwärtigen Bundestag sind Union und FDP weit von einer derartigen Mehrheit entfernt. Heute können die Liberalen schon froh sein, wenn CDU-Chef Friedrich Merz ihre Ideen nicht einfach gönnerhaft im Unions-Programm kopiert, um die Liberalen dann bei der nächsten Bundestagswahl unter fünf Prozent zu drücken.
Vor 42 Jahren leitete das Lambsdorff-Papier den Koalitionswechsel der FDP ein, der den Liberalen für weitere 16 Jahre die Macht sicherte. Lindners billige Provokation dagegen dürfte nicht mehr als eine Fußnote im Abgesang auf die gegenwärtige FDP bleiben. Geschichte wiederholt sich manchmal eben doch nicht.
Wichtige Fragen beantwortet Herr Lindner nicht: 1. Wo und wie soll der tödlich strahlende hochradioaktive Atommüll gelagert werden, der in der Regierungsmitverantwortung der FDP erzeugt wurde? 2. Wie kann die Energiewende (Strom, Verkehr, Wärme) beschleunigt werden, um die sich abzeichnenden Klimakatastrophen (aktuell Spanien) aufzuhalten? 3. Wie können wir durch Marktmechanismen wie regionale Strompreiszonen unsere Elektrizitätswirtschaft effizienter machen? 4. Wann endlich kommt das Klimageld, um einen sozialen Ausgleich für höhere CO2-Preise zu schaffen? 5. Wir können wir mit dem Steuersystem das immer weitere Auseinanderklaffen von Einkommen und Vermögen umdrehen? 6. Konkreter Bürokratieabbau durch Vereinfachungen und Digitalisierung im Steuersystem. 7. Steuerschlupflöcher für Gutverdienende und Reiche schließen und damit die Steuersätze senken.
Sehr wichtige Hinweise und Argumente von Herrn Kamm!
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