Auch Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine sind die meisten deutschen Politiker noch völlig geschockt. Bei der Sondersitzung des Bundestags zeigt ein Redebeitrag nach dem anderen, dass da die Glaubenssätze und Illusionen einer ganzen Generation von Volksvertretern geplatzt sind. Hat denn wirklich niemand damit gerechnet, dass Putin das Nachbarland überfallen, Tod und Verderben über Frauen, Männer und Kinder eines „Brudervolkes“ bringen könnte?
Offenbar waren längst nicht nur die „Russland-Versteher“, von denen es in SPD, Linkspartei und AfD besonders viele gibt, überzeugt, dass Russland eben noch ein bisschen Zeit, Nachsicht und Wohlwollen brauche. Dann werde es irgendwann einschwenken auf den Kurs der Demokratie. Wie naiv das war, wird jetzt überdeutlich. Das „Ende der Geschichte“ mit ihren wechselnden Bündnissen und Kriegen, wie es Francis Fukuyama prophezeit hatte, es blieb aus. Stattdessen erweisen sich die Vorhersagen eines anderen Politikwissenschaftlers heute auf bedrückende Weise als zutreffend. Samuel Huntington warnte vor einem „Kampf der Kulturen“, der anstelle der Konkurrenz zwischen den beiden Groß-Ideologien Kommunismus und Demokratie treten würde.
Huntington sah die sicherheitspolitische Gefahr der Ukraine schon 1996
Die Staaten der Welt gruppieren sich demnach entlang historischer, ethnischer und religiöser Gemeinsamkeiten zu neuen Blöcken. Neben dem Westen unter der Führung der USA sieht Huntington etwa chinesische, indische oder islamische Groß-Zivilisationen. Und eben auch einen orthodoxen, dem Autoritarismus zuneigenden Kreis mit Russland im Zentrum. Gerade in Deutschland wurde Huntingtons Sichtweise heftig kritisiert. Tenor: Kulturelle Gräben würden durch Handel, Austausch und Dialog immer unbedeutender. Doch die Befürchtungen, die Huntington schon 1996 gerade für die Ukraine hegte, werden jetzt grausame Wahrheit. Er sah das Land in sich gespalten in einen östlichen Teil mit überwiegend russischer, orthodoxer, autoritärer Kultur und einen westlichen, deutlich Europa zugewandten Teil. Eine solche Spaltung sei sicherheitspolitischer Sprengstoff, könne zu Auseinandersetzung und letztlich Teilung in zwei Staaten führen. Tatsächlich erregte die Ukraine umso mehr den Argwohn Moskaus, als sich immer mehr ihrer Bürger, darunter durchaus nicht wenige russische Muttersprachler, stärker nach Westen orientierten.
So, wie es Huntington fürchtete, versucht ein russischer Despot gerade, die Ukraine in seine Einflusszone zu zwingen. Nun wird die Ukraine, die ein wichtiges Scharnier zwischen Ost und West hätte sein können, das die russische und die europäische Sphäre verbindet, in Schutt und Asche gelegt.
Der "Wandel durch Handel" hat den Krieg in der Ukraine nicht verhindert
In Trümmern liegen damit auch die jahrzehntelang gepflegten Lebenslügen der deutschen Politik. Dass sich der „Wandel durch Handel“ in Russland einstellen würde – schon seit vielen Jahren gibt es dafür keinerlei Anzeichen mehr. Dennoch hat sich die Bundesrepublik im Energiesektor in immer tiefere Abhängigkeit zu Putin begeben.
Wenn Deutschland heizt und tankt, füllen sich die Taschen Putins. Der kann so die Waffen finanzieren, die nun Kinder, Frauen und Männer in der Ukraine verstümmeln und töten. So ist die Illusion einer ganzen Generation, dass in Europa alle Menschen Brüder und Schwestern werden, am frühen Donnerstagmorgen explodiert. Der laute Knall hat die deutsche Politik aus ihrem Tiefschlaf gerissen. In ihrem Schock gelobt die Bundesregierung, realistischer und wehrhafter gegenüber Russland zu werden, unabhängiger im Energiesektor. Alles gut und richtig. Doch vielen Menschen in der Ukraine hilft das nicht mehr.
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