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Landtagswahlen 2016: Deutschland wurde auf den Kopf gestellt

Landtagswahlen 2016

Deutschland wurde auf den Kopf gestellt

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    Was bleibt nach den drei Landtagswahlen vom Sonntag?Vor allem die Erkenntnis, dass Dinge, die im politischen Leben über Jahrzehnte selbstverständlich waren, nicht mehr gelten.
    Was bleibt nach den drei Landtagswahlen vom Sonntag?Vor allem die Erkenntnis, dass Dinge, die im politischen Leben über Jahrzehnte selbstverständlich waren, nicht mehr gelten. Foto: Jan Woitas, dpa

    Die Bilder könnten unterschiedlicher kaum sein. Auf der kleinen Bühne im Willy-Brandt-Haus, dem Hauptquartier der SPD, hat Sigmar Gabriel die halbe Parteispitze um sich geschart, als er den Spitzenkandidaten am Tag danach noch einmal wortreich für ihren Einsatz dankt und Blumensträuße an sie verteilt.

    Im Konrad-Adenauer-Haus dagegen kommt Angela Merkel alleine mit ihren drei Matadoren zur Nachbesprechung der Wahl. Dass sie einen roten Blazer zu einer schwarzen Hose trägt, kann ein Zufall sein oder ein sehr bewusst gewähltes Zeichen, schließlich haben Kanzlerin und Vizekanzler im Moment ganz ähnliche Sorgen. Deutschland, hat CSU-Chef Horst Seehofer gerade von München aus geunkt, habe am Sonntagabend „ein politisches Erdbeben“ erlebt. Was das konkret bedeutet? Sechs Lehren aus den drei Landtagswahlen:

    Es gilt das Prinzip: Kandidat schlägt Programm

    So unterschiedlich Malu Dreyer, Winfried Kretschmann und Rainer Haseloff auch sein mögen – ihr Erfolgsgeheimnis ist das gleiche. Alle drei Ministerpräsidenten sind deutlich beliebter als ihre Parteien, sie werden um ihrer selbst gewählt und nicht aus einer diffusen Verbundenheit zur SPD, zu den Grünen oder zur Union. Bei Kretschmann ist der sogenannte Kandidatenfaktor dabei besonders hoch: Fast die Hälfte der Baden-Württemberger, die am Sonntag grün gewählt haben, hat dies vor allem wegen des grünen Spitzenkandidaten getan.

    Der letzte Landesvater, der auf ähnlich hohe Werte kam, war der Bremer Bürgermeister Henning Scherf (SPD), aber der ist schon seit mehr als zehn Jahren in Rente. Im direkten Vergleich lag Kretschmann mit 75 Prozent um politische Lichtjahre vor seinem Herausforderer Guido Wolf mit 15 Prozent, in Rheinland-Pfalz trennten Malu Dreyer mit 50 Prozent immerhin noch 20 Punkte von ihrer Kontrahentin Julia Klöckner.

    Auch eine gewisse Klarheit in den Positionen zahlt sich offenbar aus: Mal für den Kurs der Kanzlerin zu sein und dann wieder gegen ihn, wie die beiden CDU-Kandidaten Wolf und Klöckner es getan haben, bringt keine Stimmen, sondern kostet Stimmen. „Wer zu sehr nach den Rändern schielt“, schreibt die Forschungsgruppe Wahlen in ihrer Analyse, „verliert die breite Mitte und kann keine Wahlen gewinnen.“

    Es gibt nur noch eine Volkspartei in Deutschland: die CSU

    Die Dickschiffe der deutschen Politik haben kräftig abgespeckt. Ergebnisse von deutlich mehr als 40 Prozent, für die CDU und die SPD in Hochburgen wie Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen jahrzehntelang eine Selbstverständlichkeit, fährt heute nur noch eine Partei ein – die CSU, die im Moment bei etwa 46 Prozent steht. Zieht man von den bundesweiten Werten für die Union den Bayern-Anteil von sieben bis acht Prozentpunkten ab, liegt auch die CDU inzwischen unter der 30-Prozent-Marke.

    Dass Konservative und Sozialdemokraten in zwei Bundesländern, nämlich in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, zusammen nicht einmal mehr auf 50 Prozent der Stimmen kommen, hat es bislang erst in einem Bundesland gegeben – in Thüringen.

    Zwölf Prozentpunkte weniger in Baden-Württemberg für die CDU, jeweils zehn Punkte weniger für die SPD in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg: Den großen Parteien gehen ihre Stammwähler verloren. Sie verlieren weiter an Bindekraft. Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, regierte die Union in elf Bundesländern. Im Moment sind es noch fünf.

    Die Lager lösen sich auf, neue Koalitionen entstehen

    In Parlamenten mit fünf oder sechs Fraktionen rechnen sich die klassischen Allianzen wie Schwarz-Gelb oder Rot-Grün nicht mehr. Die einzige Alternative zu einer Großen Koalition wird in Zukunft ein buntes Dreier-Bündnis sein – sei es eine Ampel aus SPD, Grünen und Liberalen, sei es die sogenannte Jamaika-Koalition aus der Union, den Grünen und der FDP, sei es das Modell Kenia mit Schwarz, Rot und Grün, wie es sich in Sachsen-Anhalt abzeichnet, sei es die sogenannte Deutschland-Koalition aus Union, SPD und

    Dreier-Regierungen aber neigen zur Instabilität, wie das Jamaika-Experiment im Saarland gezeigt hat, das Anfang 2012 nach gut zwei Jahren schon wieder zu Ende war. Außerdem werden die Verhältnisse im Bundesrat dadurch noch unübersichtlicher.

    Andere Länder wie Dänemark behalfen sich in solchen Situationen mit Minderheitsregierungen, die sich von Abstimmung zu Abstimmung abwechselnd ihre Mehrheiten im Parlament suchen. Deutschland ist in dieser Hinsicht aber noch ein Entwicklungsland.

    Rechts ist nicht gleich rechts

    Wie in Frankreich, den Niederlanden oder Schweden hat sich mit der AfD eine populistische Kraft rechts von der Mitte etabliert: Sie sitzt jetzt in acht Landtagen und dürfte im nächsten Jahr auch den Sprung in den Bundestag schaffen. Zwei Drittel ihrer Wähler würden ihr Kreuz übrigens auch bei der CSU machen, wenn sie es außerhalb Bayerns könnten – schon das spricht gegen die These, dass die neue Denkzettel-Partei nur verkappte Rechtsradikale, anderweitig Frustrierte und notorische Protestwähler anzieht.

    So extrem wie einige Funktionäre denken ja längst nicht alle ihrer Wähler. Sie empört als eine Art „NPD light“ zu stigmatisieren, wie weite Teile der etablierten Politik es bisher getan haben, macht die AfD offenbar nur noch stärker.

    Fast 70 Prozent der Wähler in den drei Bundesländern haben in Umfragen der ARD eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen verlangt – gleichzeitig aber stehen mit Ausnahme der AfD (und der CSU natürlich) alle anderen Parteien treu hinter Angela Merkels Politik der offenen Grenzen.

    Von diesem Mangel an politischen Alternativen lebt die Alternative für Deutschland. Sie wird nicht wegen ihres Programms oder ihres Spitzenpersonals gewählt, sondern vor allem aus Verdruss über die sogenannten Altparteien.

    Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) plädiert daher für einen neuen Pragmatismus in der Großen Koalition: „Wir müssen das Flüchtlingsproblem dauerhaft in den Griff kriegen. Das heißt, die Balkanroute muss zubleiben.“

    Von wegen politikverdrossen: Die Wähler wurden unterschätzt

    Wenn es um die großen Fragen des Zusammenlebens geht, sind die Deutschen alles andere als politikmüde. Die erregten Debatten über den Umgang mit der Flüchtlingskrise haben dafür gesorgt, dass in Familien, in Betrieben und an Stammtischen politisiert wird wie seit dem Mauerfall nicht mehr und Nichtwähler plötzlich wieder wählen gehen.

    Die haben zwar überdurchschnittlich stark die Alternative für Deutschland angekreuzt, in Baden-Württemberg aber haben auch die Grünen mehr als 100000 Wähler aus dem Lager der Nichtwähler dazugewonnen.

    Und in Rheinland-Pfalz profitierten CDU und SPD ähnlich stark von der neuen Lust am Wählen wie die AfD. Für unsere Demokratie sei das ein gutes Zeichen, sagt der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte. „Wenn es um wichtige Entscheidungen geht, kann man Nichtwähler auch wieder an die Urne bekommen.“ Der Wähler, das unbekannte Wesen, ist zwar unberechenbarer geworden – aber er wählt.

    Kanzlerin Angela Merkel ist sakrosankt – immer noch

    Auf die Frage, ob Angela Merkel noch die richtige Regierungschefin ist, antwortet selbst Horst Seehofer mit „Ja“. Der CSU-Chef lässt zwar keine Gelegenheit aus, die Kanzlerin für ihre Flüchtlingspolitik zu kritisieren und einen Kurswechsel zu fordern, die aber sitzt auch nach diesem für die CDU so deprimierenden Wahlsonntag noch fest im Sattel. Ihren Sprecher Steffen Seibert lässt sie tags darauf ausrichten, sie sehe keinen Grund, ihre Politik zu korrigieren.

    Einige ihrer Getreuen, allen voran Generalsekretär Peter Tauber und Parteivize Armin Laschet, wollen in den Wahlen vom Sonntag trotz der hohen Verluste sogar eine Bestätigung ihrer Politik herausgelesen haben.

    Am spektakulärsten rechnete am Wahlabend allerdings Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, im Zweitberuf ebenfalls stellvertretende Parteivorsitzende: Mehr als 80 Prozent der Wähler hätten für Parteien gestimmt, „die eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage befürworten und den Kurs der Kanzlerin unterstützen“.

    Heißt das, die Erfolge der anderen Parteien sind nun auch die Erfolge der Union? Ende der Woche, beim nächsten EU-Gipfel mit der Türkei, steht Angela Merkel der nächste Härtetest bevor. Ausgang ungewiss. Nicht einmal der Aufstieg der AfD scheint die Kanzlerin aus der Ruhe zu bringen. Sie sehe das als Problem, sagt sie, „aber nicht als ein existenzielles Problem der CDU“.

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