Schon die Umfragen hatten den Sozialdemokraten wenig Hoffnung gemacht. „Wen rufen die eigentlich an“, fragt ein wütender Torsten Albig in der Lübecker Kongresshalle sein SPD-Publikum. Von „dummen Umfragen“ spricht der Kieler Ministerpräsident. Kanzlerkandidat Martin Schulz, der am Donnerstag gemeinsam mit Albig im eigens reservierten „Schulzzug“ per Regionalbahn durch den Norden tingelte, hielt die Arbeit der Meinungsforscher für „Kokolores“. Doch für die Sozialdemokraten kam es noch schlimmer: Die Prognosen am Wahlabend lagen noch deutlich unter den letzten Umfragezahlen, ein sicher geglaubter Ministerpräsidenten-Posten dürfte verloren sein.
Während Merkels Kanzlerschaft hat es noch nie ein CDU-Politiker geschafft, aus der Opposition heraus Regierungschef zu werden. Der Last-minute-Kandidat der Nord-CDU, Daniel Günther, könnte es schaffen, wenn er denn eine Koalition schmieden kann. Die Hochrechnungen gaben seiner CDU einen sieben Prozentpunkte großen Vorsprung vor der SPD. Der Schulz-Effekt scheint kein Trend mehr, den die Kanzlerin im Herbst zu fürchten hat. Statt 2:1 für die SPD könnte es nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl sogar 3:0 für die CDU stehen.
Irgendwie wirkten die Genossen bis hin zu 100-Prozent-Parteichef Schulz schon in den vergangenen Tagen etwas bedröppelt. Bei der Fahrt des „Schulzzuges“ von Kiel nach Lübeck wurde Schulz zwar an vielen Bahnsteigen von Fahnen schwenkenden Kindern und Rentnern bejubelt. An der Parteibasis funktionierte der „Schulz-Effekt“ noch. Die zu Gabriel-Zeiten demoralisierte SPD glaubte wieder an sich. Doch Schulz schaute in den vergangenen Tagen eher nachdenklich-matt aus dem Fenster, als auch aus seiner Heimat Nordrhein-Westfalen immer schlechtere Zahlen für die SPD gemeldet wurden.
Das Wahlergebnis in Schleswig-Holstein hat vor allem hausgemachte Gründe. Die SPD-geführte Landesregierung kam zwar ohne Krisen über die letzten Jahre. Aber im Wahlkampf lief bei den Genossen nicht alles glatt. Das TV-Duell gegen Herausforderer Günther konnte Albig nicht gewinnen, und ein Bunte-Interview mit Schilderungen eines überkommenen Frauenbildes im Zusammenhang mit der Trennung von seiner Frau stieß auf massive Kritik. Abgesehen von der Zusage, Eltern mittelfristig von allen Kita-Gebühren zu befreien und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, mangelte es der SPD an überzeugenden Zukunftsbotschaften. Und von Parteichef Schulz und Außenminister Sigmar Gabriel gab es aus der eigenen Partei Kritik am Kieler Abschiebestopp für Afghanistan.
CDU-Mann Günther setzte auf Populäres und Konkretes: weg vom Turbo-Abitur; größere Abstände zwischen neuen Windanlagen und Wohnhäusern, Grunderwerbsteuer senken, die Autobahn A20 endlich zügig weiterbauen. Er wie auch FDP-Vormann Wolfgang Kubicki dürften nun versuchen, die Grünen als Koalitionspartner zu gewinnen: Jamaika im Norden – das wäre auch ein Signal auf Bundesebene. Ebenso eine schwarz-grüne Koalition, die laut ersten Hochrechnungen eine knappe Mehrheit hätte. Eine mögliche Alternative zu einer erneuten Auflage einer Großen Koalition. „Ich hätte nie erwartet, dass die CDU so stark vor der SPD liegt“, sagte FDP-Kandidat Kubicki und machte Wahlgewinner Günther gleich ein Angebot für Koalitionsgespräche. Eine Fortsetzung der Koalition von SPD, Grünen und SSW ist nicht mehr möglich. Die Frage ist, ob die Liberalen nicht nur für Jamaika, sondern auch für eine Ampel mit SPD und Grünen zu haben wären. Kubicki wollte von Anfang an jedoch nicht als bloßes Anhängsel von Rot-Grün dienen.
Mit harscher Kritik an Albig und SPD im Wahlkampfendspurt hatte er auch den politischen Preis für eine „Ampel“ weiter nach oben getrieben. Ein „Jamaika“-Bündnis aus CDU, FDP und Grünen war sein Wunschziel – aber die Grünen könnte das zerreißen, auch wenn sie diese Konstellation nie ausgeschlossen haben. Bleibt also noch eine Große Koalition unter Führung eines CDU-Regierungschefs mit der SPD als Juniorpartner.
Ein Ergebnis, das Parteichefin Angela Merkel gefallen würde: Für die Kanzlerin läuft es nach dem Erfolg im Saarland und nun im Norden bestens: Die Kanzlerin trat noch am Freitagabend in Eckernförde und Norderstedt auf. Die CDU-Chefin beherrschte im Gegensatz zu Schulz die Fernsehnachrichten: Sie war beim saudischen König und bei Putin. Und bald ist Nato-Gipfel mit Trump. Parallel diskutiert Merkel zum Kirchentag am Brandenburger Tor mit Obama über die Zukunft der Demokratie. Anfang Juli ist sie Gastgeberin des G20-Gipfels in Hamburg. Starke Bilder sind für die Kanzlerin garantiert. (mit dpa)