Könnte man die politische Zukunft der beiden großen Parteien in Großbritannien an der Teilnehmerzahl ihrer Parteikonferenzen ablesen, hätte Labour die Nase vorn. Während bei den Konservativen viele Abgeordnete dem Treffen in Manchester vergangene Woche fernblieben, reichte der Platz in Liverpool für die angereisten Labour-Parteimitglieder, Delegierten und Lobbyisten kaum aus. Auch in den Umfragen liegen die Sozialdemokraten aktuell 18 Prozentpunkte vor den Tories. Damit gelten sie derzeit als Favoriten für die Wahlen, die voraussichtlich im Herbst 2024 stattfinden.
Dass es immer wieder zu Überraschungen kommen kann, zeigte sich bei der Rede von Parteichef Keir Starmer am Dienstagnachmittag. Gerade als dieser auf der Bühne das Wort ergreifen wollte, wurde er von einem Protestler aus nächster Nähe mit Glitter beworfen. Nachdem der Aktivist abgeführt worden war und sich der Politiker von dem kurzen Schreck erholt hatte, musste er eine entscheidende Frage beantworten: Warum Labour?
Keir Starmer will 1,5 Millionen neue Wohnungen bauen
Nach 13 Jahren Tory-Regierung sei der Weg zum Aufschwung schwierig, aber machbar, sagte Starmer. Das staatliche Gesundheitssystem NHS müsse reformiert werden. Er wolle 1,5 Millionen neue Wohnungen bauen. Der Umstieg auf grüne Energien spare Geld und schaffe neue Jobs und damit Wachstum. Großbritannien müsse, könne und werde seine Zukunft zurückbekommen, erklärte er unter tosendem Applaus.
Überraschende Ankündigungen blieben in der einstündigen Rede aus, auch wie Starmer seine Pläne finanzieren will, erklärte er nicht im Detail. Im Verlauf der Konferenz machten Abgeordnete jedoch immer wieder deutlich, dass sie den Kurs des 61-Jährigen unterstützen. Auch viele Parteimitglieder zeigten Verständnis dafür, dass die Führung jetzt keine Fehler oder falsche Versprechungen machen wolle. Während Starmer als wenig charismatisch gilt, fand seine Stellvertreterin Angela Rayner großen Anklang. Die 43-Jährige ist schon allein wegen ihrer Herkunft aus der Arbeiterklasse beliebt.
Starmer war Brexit-Beauftragter seiner Partei
Doch auch Starmers Weg an die Spitze der Partei war nicht vorgezeichnet. Als einziges von vier Kindern besuchte er eine weiterführende Schule. Seine Kindheit und Jugend waren überschattet von der Krankheit seiner Mutter. Sie litt an „Morbus Still“, einer seltenen Krankheit mit schweren rheumatischen Schüben. Nach dem Schulabschluss studierte Starmer in Leeds und Oxford Jura. Dann arbeitete er als Anwalt für Menschenrechte. 2008 wurde er von der Labour-Regierung zum obersten Staatsanwalt ernannt. Im Jahr 2015 holte er einen Sitz im britischen Parlament. 2016 wurde er vom damaligen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn zum Brexit-Beauftragten der Partei bestimmt.
Nachdem Corbyn nach der vernichtenden Niederlage der Partei bei den Parlamentswahlen 2019 seinen Rücktritt angekündigt hatte, wurde Starmer im April 2020 neuer Chef. Vor ihm lag eine Mammutaufgabe. Schließlich kämpfte Labour mit internen Spaltungen, eine langwierige Antisemitismusdebatte lähmte die Partei. Nach seiner Wahl versprach Starmer, die Beziehungen zwischen Labour und der jüdischen Gemeinde wiederherzustellen. Corbyn, der immer wieder seine Solidarität mit den Palästinensern bekundet hat, wurde aus der Partei ausgeschlossen.
Der Angriff der Hamas auf Israel und die militärische Reaktion riefen dieses Kapitel nun wieder in Erinnerung. Die Abgeordneten verurteilten die Attacken einhellig. „Die Labour-Partei unterstützt entschieden das Recht Israels, sich zu verteidigen, Geiseln zu befreien und seine Bürger zu schützen”, sagte David Lammy, außenpolitischer Sprecher der Partei.