Bekommen wir genug Impfstoff, um die Pandemie bald zu bremsen? Die Frage treibt nicht nur Deutschland um. Auch bei der EU liegen die Nerven inzwischen blank, ein Streit auf offener Bühne zwischen dem britisch-schwedischen Impfstoffhersteller Astrazeneca und der Europäischen Kommission ist am Mittwoch eskaliert. Ein für den Abend geplantes Spitzengespräch zwischen dem Pharmariesen und der EU-Kommission sowie Vertretern der Mitgliedstaaten sagte das Unternehmen zunächst ab, eine Stunde später dann wieder zu.
Zuvor hatte der Konzern angekündigt, seine Lieferungen an die 27 Mitgliedstaaten bereits am 7. Februar zu beginnen – eine Woche früher als bisher geplant. Und außerdem soll es, wie unsere Redaktion erfuhr, nicht nur eine, sondern drei Teillieferungen im Februar geben. Allerdings wird es wohl trotzdem bei der Kürzung des Impfstoffkontingents für die EU von 80 auf 31 Millionen Impfdosen im ersten Quartal 2021 bleiben. Mehr noch: Der Versuch von Astrazeneca-Chef Pascal Soriot, in einem Interview mit zwei europäischen Zeitungen die Wogen zu glätten, scheiterte komplett.
Aus Brüssel hieß es zu seinen Aussagen nur brüsk: „Das reicht nicht.“ Tatsächlich hatte der Konzernchef die Schuld für die Probleme der EU zugeschoben, die drei Monate später als Großbritannien den Kaufvertrag mit Astrazeneca unterschrieben habe. Es gebe auch keine Klausel, die sein Unternehmen verpflichte, Impfdosen auf Halde zu produzieren, um am Tag der Zulassung eine bestimmte Menge an Ampullen ausliefern zu können: „Wir haben zugesagt, es zu versuchen, uns aber nicht vertraglich verpflichtet.“
Brüssel ist empört über die Haltung von Astrazeneca
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides antwortete kurz und bündig: „Das ist falsch und nicht akzeptabel.“ Und sie bekräftigte am Mittwoch das genaue Gegenteil: Astrazeneca habe eine Zusage über 336 Millionen Euro für die Forschung und die Sicherung der Produktion erhalten. Das Geld soll in verschiedenen Raten ausgezahlt werden, vollständig ausgezahlt ist noch nicht. Brüssel könnte Teilbeträge zurückhalten. Dies sei mit dem Versprechen zur Bereitstellung der Impfdosen verknüpft gewesen. Den angegebenen Grund für die reduzierte Lieferung – Probleme in der Lieferkette – will die EU nicht gelten lassen.
Astrazeneca-Chef Soriot sagte in dem Interview, in der EU werde der Impfstoff in Belgien und den Niederlanden produziert. Dort sei bei einer Anlage leider der Ertrag sehr niedrig. In Großbritannien habe es anfangs auch Schwierigkeiten gegeben. „Aber der Vertrag mit den Briten wurde drei Monate vor dem mit Brüssel geschlossen.“ Die Anlagen mit der niedrigsten Produktivität lägen nun einmal in Europa. „Das machen wir ja nicht mit Absicht!“ Sein Team arbeite rund um die Uhr, um die Probleme zu lösen.
Astrazeneca-Chef Soriot vertröstet Deutschland
Laut Astrazeneca könnte es zwei bis drei Monate dauern, bis Impfstoff im geplanten Umfang an die EU geliefert wird. Soriot sagte: „Sobald wir in den nächsten Tagen die Zulassung erhalten, liefern wir drei Millionen Dosen. Dann jede Woche mehr, bis wir bei 17 Millionen sind. Die werden nach Bevölkerungszahl verteilt, für Deutschland mithin ungefähr drei Millionen in einem Monat.“ Das sei „gar nicht so schlecht“.
In der EU ist man anderer Meinung. Wie groß die Aufregung und Verärgerung in Brüssel wirklich ist, konnte man in diesen Tagen daran ablesen, dass diesmal die Chefs der zuständigen EU-Agenturen vor die Mikrofone traten, um die Korrespondenten aus den Mitgliedstaaten zu informieren. Emer Cooke, Direktorin der Europäischen Arzneimittelagentur in Amsterdam, hatte dabei nur wenige Antworten. Wann kommen Impfstoffe für Schwangere und Kinder? „Es müssen noch weitere Untersuchungen unternommen werden.“ Können Geimpfte das Virus weitergeben? „Die Studien dazu liegen noch nicht vor.“
Biontech stockt die Impfstoff-Produktion auf
Aus Kreisen der EU-Agentur zur Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) im schwedischen Solna hieß es am Mittwoch, man sei „optimistisch“, dass die vorhandenen Vakzine bei den Mutanten aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien wirksam sind. Und noch eine Frage blieb bei allen Experten, die die EU in den vergangenen Tagen auffuhr, auf seltsame Weise unbeantwortet: Könnte es doch sein, dass der Astrazeneca-Impfstoff bei älteren Menschen über 65 weniger wirksam ist? „Bei den Studien, die durchgeführt worden sind, gab es nur sehr, sehr wenige ältere Menschen, die teilgenommen haben“, zog sich EMA-Chefin Cooke aus der Affäre, um dann über die Möglichkeiten, die dem Zulassungsausschuss bleiben, zu referieren. Eine begrenzte Zulassung nur für bestimmte Altersgruppen sei ebenso möglich wie eine Vertagung der Entscheidung am Freitag. Es gingen schließlich immer noch neue Daten vom Hersteller ein. An diesem Tag sollte über die Zulassung des Impfstoffes entschieden werden.
Inzwischen zugelassen in Europa sind Vakzine von Biontech/Pfizer und Moderna. Auch Biontech/Pfizer hatte zwischenzeitlich Produktionsprobleme, allerdings wohl nur kurzfristig. Der französische Pharmakonzern Sanofi kündigte am Mittwoch an, ab Sommer mehr als 125 Millionen Dosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs für die EU im Sanofi-Werk in Frankfurt zu produzieren. Der Impfstoff von Astrazeneca wäre das dritte in der EU zugelassene Corona-Vakzin.
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