Sein Blick wirkt noch ein wenig angespannter als sonst. Mal wieder ist Wolodymyr Selenskyj über eine Videoleinwand zugeschaltet zu einer Konferenz. Daheim, in der Ukraine, kämpft seine Armee gerade in schwierigen Gefechten gegen die russischen Truppen. In London geht es schon um den Wiederaufbau seines Landes. Für den ukrainischen Präsidenten ist es ein wichtiger Tag. Das hatte er schon vorher klargemacht. „Eine wiederaufgebaute Ukraine, eine transformierte Ukraine, eine stärkere Ukraine ist (...) ein Sicherheitsgarant, ein Schutz gegen jedwede Form von russischem Terror“, hatte Selenskyj in seiner allabendlichen Videobotschaft gesagt. Bei dem Treffen, das bis Donnerstag dauert, wollen Staaten und große Konzerne Hilfen für den Wiederaufbau des kriegsgebeutelten Landes ankündigen. Es geht um mehr als nur Geld, es geht um ein Zeichen, dass der Westen an den Sieg der Ukraine glaubt, und bereit ist, so viel wie möglich dafür zu tun.
An den Fronten des Landes kann Selenskyj im Moment nicht ausschließlich Erfolge vermelden. Zwar hissen seine Streitkräfte seit Tagen immer wieder stolz die blau-gelbe Flagge in zurückeroberten Ortschaften. Doch es sind eher symbolische Erfolge – wichtig, aber nicht kriegsentscheidend. „Manche Menschen glauben, das ist ein Hollywood-Film, und erwarten jetzt Ergebnisse. Aber so ist es nicht“, sagt Selenskyj in London.
Der Erfolg der Ukraine im Krieg hängt an deren Ausrüstung
„Insgesamt müssen wir die Erwartungen an die Gegenoffensive sehr niedrig halten“, sagt Roderich Kiesewetter und befeuert eine Diskussion, um die es zuletzt ruhiger geworden war. Erfolge würden letztlich daran hängen, wie viel und welches Material die Unterstützer-Länder der Ukraine zur Verfügung stellen. „Qualität und Quantität sowie Logistik sind entscheidend“, sagt er. Kiesewetter ist nicht nur CDU-Verteidigungsexperte, sondern hat als Oberst a.D. auch militärisches Know-how. Weitere Hilfen hält er für unabdingbar. Kiews Vizeaußenminister Andrij Melnyk, der vorher Botschafter in Deutschland war, hat jüngst eine Verzehnfachung der Unterstützung gefordert. Jedes Land solle ein Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die ukrainische Militärhilfe ausgeben. Auch Selenskyj bat um deutlich mehr als die bisher gelieferten zwei Patriot-Flugabwehrsysteme – bestenfalls 50 Stück.
Die sind genauso wenig in Sicht wie ein schneller Erfolg. „Die Ukraine hat einen dreifachen Nachteil auf dem Schlachtfeld“, analysiert Kiesewetter. Erstens seien Offensivoperationen wesentlich schwerer als die Verteidigung. Und in genau dieser Rolle ist die Ukraine nun bei der Rückeroberung von besetzten Gebieten. Der Aggressor Russland habe den Winter und das Frühjahr genutzt, um sich tief einzugraben und Verteidigungsstellungen zu errichten und auszubauen. „Das bedeutet eine Vielzahl an Minenfeldern, Panzergräben, Erdwällen, Drachenzähnen und natürlichen Hindernissen, verteilt auf 1200 Kilometer Front“, sagt der CDU-Mann. „Die Ukraine hat zu wenig Material, um großflächig vorzugehen.“ Russland hat inzwischen immerhin 18 Prozent des Landes besetzt.
Ukraine braucht mehr Flugabwehrsysteme
Zweitens, so Kiesewetter, schaffe es Russland, die Befreiungsoperationen der Ukraine zu verzögern und zu erschweren, indem der Terror und Beschuss auf die Zivilbevölkerung stetig weitergehe und mit der Sprengung des Kachowa-Damms Frontabschnitte für die Gegenoffensive unzugänglich gemacht würden. „Gerade durch den Bombenterror auf zivile Ziele wird deutlich, welch großen Nachteil die Ukraine durch fehlende Flugabwehr und Lufthoheit hat“, warnt der Oberst a.D. und weist damit auf seinen dritten Punkt hin: die Stärkung durch entsprechendes Gerät. Auch in Kiew ist immer wieder die Rede davon, dass viele ukrainische Ortschaften schon heute so aussehen würden wie die völlig zerschossenen Städte Bachmut und Mariupol, wenn es die Flugabwehr nicht gäbe. Mehr Patriot-Abwehrsysteme seien dringend notwendig. „Parallel zu Drohnen und Raketenterror auf zivile Ziele, attackiert Russland die ukrainischen Truppen massiv mit Kampfflugzeugen und -hubschraubern“, sagt Kiesewetter. „Westliche Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber wären deshalb gerade jetzt notwendig.“ Er übt deutliche Kritik am Vorgehen des Westens. „Die westlichen Staaten haben die Ukrainer in eine sehr schwierige Ausgangsposition gebracht, indem entscheidende Waffenlieferungen blockiert und verzögert wurden“, sagt er.
Kiesewetter fordert die internationale Allianz auf, ihre Bemühungen wieder zu verstärken. Die Ukraine brauche eine effektive Flugabwehr, mehr Munition, sämtliches zerstörtes Material – also auch Leopard-Kampfpanzer und Schützenpanzer - müsse umgehend ersetzt sowie weiteres Material wie Fuchs-Transportpanzer, Minenräumpanzer und Brückenlegepanzer geliefert werden.